Posts mit dem Label Armgard werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Armgard werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

20121029

WELLEN. ("Our tension and our tenderness")


Berlin 2. August 2009, 13.45 Uhr (MEZ)

Dass es mehr war als eine Affäre, ein Aufbäumen gegen das Altern, die Geilheit auf einen faltenlosen durchtrainierten  Körper, die Bestätigung der noch vorhandenen Attraktivität durch die zärtlichen Hände eines jungen Schönlings auf meinen Hüften, dass es mehr war; spürte ich nicht in unseren atemlosen Umarmungen oder wenn ich erschöpft neben Tomasz lag. Ich sah es nicht, wenn er sich erhob, um am Fenster eine Zigarette zu rauchen, eine makellose Silhouette hinter der gelben durchscheinenden Gardine. Ich sah es völlig unerwartet, als ich ihn in den Arkaden sitzen sah, von Weitem, vor einem Schnellrestaurant mit Karim, die Arme aufgestützt und den Kopf vorgeschoben, die wüste dunkle Haarlocke tief in die Augen fallend, die müde wirkten und traurig, während Karim, schmal und agil, mit beiden Händen gestikulierend auf ihn einredete. Da sah ich es, dass ich verloren war, dass ich mich nicht mehr befreien konnte von dieser Fesselung an einen Mann, der mir so fremd war und bleiben würde, an den ich aber schon gebunden war wie mit festen Tauen durch dieses Gefühl, das mich in diesem Moment erfasste oder dass ich in diesem Moment, als ich stehen blieb, als habe mich etwas plötzlich erschreckt, endlich erkannte: Ich liebte. Ich liebte diesen Mann, den ich aus der Distanz beobachtete, diesen Mann mit dem widersetzlichen Kinn und der ein wenig kindlichen Unterlippe, diesen Mann mit den wilden Augenbrauen und der zornigen Falte über der Stirn, diesen Mann, der an diesem Nachmittag wirkte, als habe er seit Tagen viel zu wenig geschlafen, der seine Hände gegen die Schläfen presste und seinen Freund zu ignorieren schien. Und den liebte ich auch schon, den Mann neben ihm mit der olivfarbenen Haut, dem kahlen Schädel, der scharf gebogenen Nase und den schmalen Lippen, der dem dunklen Grübler die Arme um die Schultern legte und ihn ein wenig rüttelte. Den liebte ich wie einen Sohn.

No matter what you say,
No matter what you do
I want to be the one and
Love is a Sign

Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Dieser letzte Gedanke erschütterte mich noch mehr als die Erkenntnis, wie sehr ich dem dunklen Tom verfallen war. Es war nach allen Maßstäben, die ich kannte, ein ungeheuerlicher Betrug, die Stärke dieses Gefühls für die beiden Fremden, ein Betrug an Mann und Kindern. Aber die Wahrheit war doch, dass diese neue Liebe der anderen, die ich über die Jahre gehegt und gelebt hatte, keinen Abbruch tat, dass sie nebeneinander in mir waren und ich weder die eine noch die andere in mir ersticken konnte.

Ich kannte Karim kaum. Aber wie sie da beieinander saßen vor ihren Hamburgern und ihren erkalteten Pommes auf den schmuddeligen Tabletts, wusste ich, dass sie zusammen gehörten und eine Frau, die den einen liebte, auch den anderen lieben musste und als Karim aufsah, sich umschaute und mich erkannte, sah ich: Er wusste es auch. Er winkte mich heran. Tomasz zuckte zur Begrüßung nur mit den Schultern. Aber Karim sprang auf und ergriff meine beiden Hände, um mich zu dem leeren Stuhl an ihrem Tisch zu ziehen. „Annie, happy to see you.“, sagte er und lächelte mir zu. Dabei flehten seine Augen mich an. Er liebte den Mann, den ich liebte, genauso sehr, wie ich den liebte. Nur anders. Und der Mann, den wir liebten, war krank vor Liebe, von unsere Liebe und der die ihm fehlte und immer fehlen würde. Das war so und da saßen wir drei und wussten es und Karim hielt meine Hand, bis er bemerkte, dass Tomasz auf unsere verschränkten Finger starrte. Erst da ließ er mich los. Das hatte alles höchstens eine Minute gedauert, aber ich hatte begriffen, was ich für Tomasz bedeutete und dass Karim uns helfen wollte, koste es, was es wolle.

Our tension and our tenderness
Wave after wave
Our tension and our tenderness

Die Liebe ist ein Zeichen und die Liebe zwischen Tomasz und mir war ein Zeichen unseres Unvermögens. Wir hatten beide, ein jedes auf seine Weise, in der Welt, in die wir gehörten, versagt. Wir hatten den Menschen, die uns liebten, misstraut und uns gegen sie verhärtet. Jetzt saßen wir hier und hatten einander gefunden, um unser Unheil vollkommen zu machen. Es war Karim, der um den Schmerz, den wir einander zufügen würden, wusste, aber der auch fühlte, dass wir um diese Liebe nicht herum kamen.

Wir sprachen über nichts anderes an diesem Nachmittag als über die Band und die Lieder, die Tomasz komponiert hatte und die Arrangements, die Karim vorschwebten. Aber unter der Oberfläche dieser freundlichen Gespräche breitete sich zwischen Karim und mir ein Einverständnis aus und umfing uns drei mit einer Sicherheit, die ich lange nicht mehr gefühlt hatte. Wenn Karims und meine Augen einander trafen, dann waren wir uns so vertraut, als hätten wir uns ein ganzes Leben gekannt. Wir hatten uns in den Arkaden getroffen, damit sie mir den Raum zeigen konnten, den sie gemietet hatten, um zu proben. Ich setzte mich ans Schlagzeug und spielte ein wenig mit den Trommelstöcken herum. „She can do.“, sagte Tomasz. Und Karim sagte: „I know.“ Es war lange her, dass ich zuletzt gespielt hatte, aber die Nervosität, die mich auf dem Weg in die Arkaden zu unserem Treffen begleitet hatte, war von mir abgefallen, seit ich in Karims Augen gesehen hatte. „She can do.“ Ich konnte es, weil ich es musste. Das hatte Karim mich wissen lassen und ich hatte verstanden. Wir fingen an und ich war gut und ich würde noch besser werden. Für Tomasz. Für Karim. Weil die Liebe ein Zeichen ist und keine das Recht hat, immer zu versagen.

20111012

ZERRÜTTUNG (So you stay inside...)

Neuglobsow, 25. August 2009, 16:42 CET (Central European Time)

Ich schaffte es gerade noch, mich am Küchenhocker festzuhalten. Wie die Schnitte an den bloßen Fußsohlen brennen. Die Zuckerdose ist mir aus den Händen geglitten, als ich nach ihr greifen wollte. Der Tee auf der Anrichte verdampft den tröstlichen Duft von Hagebutten. Ich kann die Tasse nicht erreichen von hier aus. Alles entgleitet mir in den letzten Tagen. Meine Finger sind oft wie taub, bis das sachte Kribbeln kommt, als seien sie eingeschlafen und wachten nur langsam wieder auf. Ich kann mit denen nicht mehr zupacken, nichts festhalten. So fing es auch bei Mama an. Ruhig, Anne, ganz ruhig. Ein Windhauch wie aus Engelsmund.

It rains for days
So you stay inside
And lock your door
Crying all the time
Crying for...

Ich hebe den linken Fuß an und ziehe die Sohle vor meine Augen. Auf dem Boden liegen die Kandisstücke. Die Dose ist heil geblieben, keine Scherben. Man schneidet sich nicht an Kandisstücken. Mir tut alles so weh. Ich blute, meine Füße bluten, ich kann nicht länger auf ihnen stehen, nicht weiter gehen, von hier aus nicht mehr. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich streiche mit dem Finger über die raue Fußfläche. Da ist kein Blut zu sehen. Meine Wunden bleiben unsichtbar. Mama! Bitte, Mama, puste! Was für ein böser Zauber das ist, dass keiner diese Schnitte sieht. Niemand wird mir glauben, wie weh mir das Gehen tut. Bert wird nicht einmal lachen, wenn ich ihm das erzähle. Bert darf nichts davon wissen.
Es gibt soviel, wovon Bert nicht wissen darf. Erst wenn er geht, atme ich auf. Jeden Morgen warte ich auf den Moment, wenn die Tür ins Schloss fällt. Dann fällt die Erstarrung ab, die hoffnungslose Müdigkeit, die mich befallen hat. Auch der heutige Tag fing damit an, dass er das Haus verließ und den Weg durch den Wald nahm zum Institut für Limnologie. Dass Bert den See erforscht. Bert wird nie etwas finden darin, was er sich nicht erklären kann. Eine Langzeitstudie geschichteter Seen, oh Bert, eine lange, so lange Zeit und doch: Der See wird sein Geheimnis nicht preisgeben, nicht an dich. All deine Wasserproben zeigen dir nicht, was hier geschieht. Ich musste raus. Rennen, um den See rennen, mich auslaufen, weglaufen vor dir und deinen Studien. Aber meine Füße trugen mich nicht ans Wasser. Ich war gefangen, deine Gefangene mit den zerschnittenen Füßen. Die liebenswürdige Zurückhaltung, diese elende Mäßigkeit mit der du mich erträgst, aushälst, behälst. Ich sehe in deinen Augen jetzt oft den Blick, den du auch auf Mama geworfen hast, meine schöne goldene Mutter.

Climb aboard my pony
Now you´ve been thrown
Get back in the saddle
And let it be known
That you´re made of steel

So gütig, sie hat dich gehasst dafür, sofort. Bevor wir gingen, zog sie mich beiseite: „Er ist es nicht. Ich habe ihn nicht gesehen dort unten.“ „Eben drum.“, sagte ich und schüttelte sie ab. Die Sehnsucht, hatte ich gedacht, ist an dich gebrandet und ausgespült, bei dir hat sie sich verlaufen wie in einem Delta. Ich habe mich treiben lassen. Du warst das Boot. Wer ein Boot hat, braucht nicht auf eigenen Füßen stehen. Das war der Deal. Die See, dachte ich, die See wird uns verbinden. Dabei sind es die Wasser, die uns trennen wie Ozeane die Kontinente. Du erforschst, ich tauche. Du hast nie etwas gehört dort unten, nur das Rauschen deines eigenen Bluts. Mein Blut ist kalt. Das weißt du nicht. Deine Vernunft ist nicht herzlos. Ich habe mich darauf verlassen.

Das Haus ist groß, aber es ist nicht mehr groß genug für uns, ich höre durch alle Wände, wenn Bert daheim ist, es ist alles durchdrungen von ihm. Das ist sein Leben, das war unser Leben, das Leben, das ich nicht mehr will, dass ich ihm gegen die Brust knallen, vor die Füße kotzen könnte, dieses Leben, das mich verstummen lässt, das mich erstickt, das mich schwer macht, so schwer, dass ich die Füße nicht mehr heben kann, dass jede Bewegung eine ungeheure Anstrengung ist, dass ich schnaufe, wenn ich mich nach den Zuckerstücken bücke, dass ich mich vor Schmerzen krümme, wie ich den Besen und die Schaufel hervor hole, dass mir die Luft wegbleibt, wenn ich mich beuge und kehre.

You walk around
With your eyes wide open
But you´re barely alive

Ich habe versucht mich leichter zu machen, damit mich diese Schwere nicht weiter hinunterzieht. Ich wiege nicht mal mehr 50kg, das habe ich geschafft. Ich mache keine Diät, aber ich habe Angst, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten kann, wenn ich Gewicht zulege. Das könnte sein, dass ich dann endgültig nicht mehr genügend Kraft habe, mich aufrecht zu halten. Ich will schwimmen, tauchen, absacken; du hast auf Mama immer nur mit Nachsicht geschaut; ich weiß das Bert, ich habe dich geliebt deswegen, aber ich sehne mich nach ihr, nach ihren Schlingen, weißt du, es ist dort unten nicht schauerlich, es ist so schön im grünen Licht.

Der dunkle Ritter kennt das Unten. Er weiß darum und hat es gesehen in mir, von Anfang an. Ich lecke aus seinem Nabel, nicht weil er flacher ist und seine Haut jünger als deine, ich lasse mich von ihm auf den Boden werfen, weil er weiß, wie es da ist, wo ich herkomme. Ich habe geschworen. Für immer und ewig. Meine schönen Söhne und deine. Meine Mühen siehst du nicht. Du glaubst, dass ich die Tage vertrödele. Und meine jämmerlichen Klagen. Ich schlüge mich, wär´ ich an deiner Stelle.

You say you´ve lost your touch
But don´t you think
That for once in your live
You should walk without a crutch?

Ich will es. Ich streife die Socken über und schlüpfe in die Schuhe. Es wird schon gehen, einen Fuß vor den anderen. Kein Blut auf dem Boden. Nur noch ein paar Zuckerstücke für das Pony.

20110416

Heiße Zelle (The Old Way Out)

Neuglobsow, 13. September 2009, 5:06 CET(Central European Time)

The Old Way Out is now the new way in.

Der See strahlte. Er schien aus tiefer Dunkelheit die Stille zu verstrahlen, nach der ich mich so vergeblich sehnte. Brachtest du mich darum in diesen Landstrich, mein Mann? Damit ich endlich jene Gelassenheit finde, um derentwillen ich mich an dich schmiegte und in dein Leben fügte? Doch schon Fontane schrieb, dass diese Tiefe sich von altersher den Hang nach Menschenopfern bewahrt hat. Und so höre ich, wann immer ich ans Ufer trete, im leichten Schlag der Wellen das „Komm, komm, komm“ der Schwester, die ich ertränkte.

Wieder einmal hatte ich mich davon geschlichen, aus dem Bett und dem Haus, in die Morgendämmerung, an den See, weg von deiner Nähe, die mich umfängt und fesselt. Was treibt mich wohin? Zum See hinunter ging ich noch gemessenen Schritts, doch meine Gedanken stürzten sich schon fort ins Wasser, trieben wie Ertrinkende unter den Algen: Dort unten lebt sie fort, die Andere, die sich hergibt, die sich in Berlin von dem dunklen Ritter überwältigen ließ, die sich fürchtete vor der gewaltsamen Öffnung ihres Körpers und sich doch immer wieder in seine Nähe drängte, ihm die Türe öffnete, den Schlüssel übergab, sich überfallen und auf das ungemachte Bett werfen ließ von dem. Tom Tom. Du ahnst es vielleicht, beschweigst, beschwörst die Stille, den See, das beschauliche Leben und begreifst nicht, dass es von daher kommt: das Sehnen, das Aufbegehren, die Hitze. Denn still liegt da der See, so grün, so blau, so besonnt. Doch unter der Oberfläche rumort es.

Please be kind
Please be kind

Ich rannte die lange Schleife vorbei am Institut für Limnologie. Keine Menschenseele so früh unterwegs, nur ein paar aufgeschreckte Vögel erhoben sich über dem Wasser. Das Tempo drosseln, sagte ich mir, doch konnte ich mich nicht bremsen, ich musste dies sündige Sehnen, herauslaufen, keuchend am Ende des Laufes zusammensinken, um jenes andere Keuchen vergessen zu machen, an Tomasz Ohr, die Nägel tief in seinen Rücken gebohrt, die Erschöpfung, die keinen Frieden brachte, der Wille nach mehr, mehr, mehr...

Still lag der See und still das Kernkraftwerk, außer Betrieb seit 1990, im Rückbau seit 1995. Es soll  wieder grün werden hier, überwuchert die Flächen von märkischem Sand, Efeu und Birke, doch noch stehen die Hallen, die Sperrzäune. Hier findet der weltweit erste Versuch statt, ein Atomkraftwerk vollständig wieder vom Boden der Erde zu tilgen. In Wahrheit geht es nur um Verschiebung. In jenem Sommer, in dem wir an den See zogen, wurde der Reaktordruckbehälter von hier nach Lubmin verbracht. Es gibt keine „Endlager“, keine Sicherheit, keine Entsorgung, nichts verschwindet ohne Spuren. Die Ruhe ist trügerisch und der See weiß es. Und die im See. Und ich. Es bleibt die heiße Zelle, in der die strahlendem Substanzen reagieren. Auch die, so behauptet man, werde nun abgebaut, doch ahne ich: sie strahlt weiter. Der ruhiggestellte See wird anzeigen, wenn sie anderswo rumort. Wie ich. Wie ich anderswo unseren Frieden verrate. Wie ich dich betrüge anderswo, mit dem, der die Ruhe verachtet. Der See, schrieb der Alte, ist launisch. Doch so stimmt es nicht: Der See birgt die Wahrheit und die ist nicht schön und still und gut.

Ich rannte. Mir die Seele aus dem Leib. Wandte den Blick vom See, in dessen Antlitz sich immerzu das Gesicht des dunklen Ritters spiegelte, den ich doch laufend zu vergessen versuchte. Ich werde ein Unglück ertrotzen, der Rückbau ist missglückt.

Über dem Hausfirst ging die Sonne auf, als ich den See umrundet hatte. Die Beine fühlten sich schwer an. Der Atem ging stoßweise. Es schäumt und wogt und greift an, kreischt und kräht. Kein Hahn. In mir. Melusine. Trommle ich hinaus. Übermorgen. Dein Lied: TRAIN SPACE.

Ich schloss auf und schlich mich ins Bad, um zu duschen.

Lord above you filled the sea, watch it roll.
At your last port of call
You weren´t saved.

20110202

ES KRÄHT KEIN HAHN (Quiet heart)

Neuglobsow am Stechlinsee, 25. September 2009, 17.32 CET (Central European Time)

Some place I don´t know
Doesn´t matter how far you come
You´ve always to go further

Habe ich an deiner Brust vor Sonnenaufgang nicht noch gestern gefleht: „Bleib“?“ Dabei warf ich dich eine Stunde später aus der Weinertstraße raus. Jetzt drücke ich mein Kreuz gegen den Türstock und atme lang aus. Doppelt so lang ausatmen wie einatmen, heißt es, um ruhig zu werden. Auf keinen Fall hyperventillieren, sage ich mir. Ich bin nicht gerannt, ganz vorsichtig habe ich einen Fuß vor den anderen gesetzt. Eine Frau, die sich im Griff hat, so bin ich gegangen vom Ortseingang her, wo Karims Blut auf den Gehweg gespritzt ist, zurück zum Haus am See.

Ich kam vom Fontane-Haus her, als ich die Sirenen heulen hörte. Hier passiert kaum was, da schaut man schon mal nach. Ulla rief: „Es ist einer gegen einen Baum geknallt.“ Hier sind immer die Alleen-Bäume schuld, wenn ein Unglück geschieht. Das Blaulicht des Rettungswagens blinkte schon still, als ich dich in deiner Lederkluft neben dem verdrehten Körper stehen sah. Zu retten war da nichts mehr. Diese Schulterpartie erkannte ich zweifelsfrei, noch bevor du dich umdrehtest: Der dunkle Ritter am See. Unter dem Helm zu deinen Füßen lugten die schwarzen Locken hervor. Karim. TRAIN SPACE. comecomecomecomecome. Du brachtest ihn her. Weil ich mit ihm sang? Was wolltest du am See? Bei mir? Mit Karim? Mit Karim. Als du mich sahst, ließt du dich auf die Knie sinken und umklammertest meine Beine. Starr hielt ich mich gerade. Und Ulla, die sich alles erklärte: „Der Junge hat einen Schock.“ Meine Hand in deinem Harr. (Tausendmal zersaust. Meine Lippen auf deinem Scheitel).

Ich drückte die Knie durch. „Sind Sie in Ordnung?“ Du schaust auf und glaubst nicht, was du siehst. Ich kenne ihn nicht, sagen meine Augen, mein Mund, meine Stirn. „Mein Gott, der ist ganz verstört.“ Ulla bückt sich neben meinem Geliebten nieder. Ich möchte schreien: „Karim ist tot.“ Mörder sind wir. Tomasz, du und ich. Es schreit und schreit. Doch ich bleibe stumm und kalt. Ich kenne dich nicht. „Annie...“ „Bitte.“ Die Rettungssanitäter tanzen um die Leiche mit ihrer Trage. Sein Helm wird abgenommen, Gehirnmasse fließt auf das Trottoir. Karim? Karim. Dein Kinn an meinem Knie. Ich lege eine Hand auf deine Schulter und beuge mich ein wenig vor. „Kommen Sie...“ „Annie...“ „Bitte.“ Eh der Hahn kräht, hab ich dich dreimal verraten. Als er aufsteht, endlich, ist es vorbei. Dass ich dich liebe, habe ich nie gesagt.

I try to tell you
I can only say when we´re apart
About this storm inside me
And how I miss your
Quiet, quiet heart

Das hier war Tabu. Neuglobsow am See. Meine Familie Jemand musste dafür büßen. Die Melusine in den Meeren. Aber warum Karim? Wenn es dich getroffen hätte, das wäre gerecht gewesen. Hast du nicht die Ordnung der Welt ins Wanken gebracht, als du dich in mich versenktest? Singend kam er mir näher als du je, wenn du in mich stießest. Wir waren einen Moment, was du von mir willst: vereint. Konntest du das nicht vergeben? Wer bist du, Tom Hell?„Be my nightmare.“ Jetzt werde ich dich nie mehr los. War das der Plan?

Der Rettungswagen fuhr davon. Das verwaiste Motorrad lehnte an der Platane. Am Boden trockneten Blut und Sekret. Ich ging nach Hause. Ganz langsam. 

Ich löse mich vom Türrahmen. Von oben ruft Daniel: „Was gibt´s heute zu essen, Mama?“ Das geht weiter. Gerettet?

It doesn´t matter
How far you´ve come
You´ve always to go further
To go

20101112

Rettungsversuch (And sometimes we don´t come through, sometimes we just get by...)

18. Oktober 2009 Neuglobsow am Stechlinsee 5.05 (Central European Time CST)

I don´t wanna let you out of my sight
Don´t wanna let you onto your flight.
The fortune teller might have been right
The bad old world can turn your hair white.

Wie weich sein Gesicht im Schlaf ist, der schmale Mund ganz entspannt, und die langen Wimpern liegen wie Strahlenkränze auf seinen Wangen. Er ist bald eingeschlafen, nachdem wir noch eine Weile in einander verschlungen gelegen hatten. Wochenlang hatten wir keinen Sex. Bert fragte nicht. Das lässt sein Barnhelmscher Stolz nicht zu. Glaubte ich. Es war schön sich zu lieben in dieser Vertrautheit, seine Hände, die mich nicht ertasten müssen, sondern wiedererkennen; wie unsere Körper sich  ineinander verschränken, wie wir uns lenken können, wir reagieren auf jede kleine Bewegung des anderen und gelangen gemeinsam ans Ziel. Immer ist es mit Bert schön, ohne Rohheit, voller Aufmerksamkeit und Wissen, aufnehmend und spendend kommen wir einander nah und näher. Ich bestaune das vertraute Gesicht im Morgenlicht, das schon durch die Läden dringt. Seine Haut hat die Arbeit im Freien mit tiefen Falten gefurcht in den Jahren. Sie stehen ihm gut, verstärken das immer noch Abenteuerliche, geradeso wie der krause, schon leicht ergraute Seemannsbart, den er sich in Chicago wachsen ließ, vielleicht als Versuch, gegen die glattrasierte Einheitlichkeit der Vorstadtamerikaner ein Zeichen zu setzen. Bert Barnhelm, er war eine Legende, als er sich in mich verliebte und ich mich in ihn vor fast 25 Jahren. Und ist nun bloß noch: mein Mann. War ich das, seine „neue Melusine“, die ihn in den Kasten zwang, den Giganten in einen Zwerg verwandelte? Wer von uns hielt die Schlüssel in der Hand? Hätten wir nur ohne einander aus dem Kasten entkommen können?

Während er schläft und sich sicher fühlt in meiner Nähe, liege ich wach und denke an den, der mich niemals barg. Ich liege wach und befriedigt neben dem Mann, den ich liebe, und träume von dem, den ich begehre. Mit ihm, mit Tomasz, war es immer Kampf, wir hetzten uns gegenseitig durch die Wüste, Dürstende, bebend vor Verlangen, zerrissen wir uns und riss es uns auseinander. Wenn wir uns aneinander rieben und ineinander vergruben, brachte uns das nicht näher. Es riss uns entzwei und vom anderen los. Und konnten an kein Ende gelangen. Wenn wir uns trennten, waren wir nicht im Frieden, sondern schon wieder angefüllt mit der Not, die uns zueinander trieb.

Noch während ich mich aus dem Schlaf räkelte gestern früh, hatte Bert das Boot auf den Anhänger gepackt und Frühstück für Daniel gemacht. Ich blieb einen Augenblick im Türrahmen zur Küche stehen. Da saß mit gebeugtem Kopf mein jüngster Sohn, der Leistungssportler, dessen kräftige Schultermuskulatur sich selbst unter dem T-Shirt deutlich abzeichnete. Im Sitzen noch wirkt dieser Junge voll unterdrückter Energie, ein ruhendes Raubtier, so ganz anders als Bert, auch als sein Bruder Carl. Diese vorgetäuschte Gelassenheit, die aufgesetzt gleichgültige Miene, ist pure Fassade. Der ganze Kerl vibriert vor Ehrgeiz. Was immer er anfängt, er macht es besser. Seit er mit dem Rudersport begonnen hat, beknieen uns seine Trainer, sein Talent zu fördern. Sein Chemielehrer rief uns an, wir sollten ihn zu einer Beteiligung an „Jugend forscht“ überreden. Meine Schwiegermutter drängte: „Lasst ihn testen. Der Junge ist hochbegabt.“ Bert und ich, einig in solchen Fragen, ignorierten das. Wir erleben, wer unser Sohn ist. Er ist klug, er ist warmherzig, er ist scheu. Er hat viele Talente. Er nutzt sie gut. Warum sollten wir sie messen lassen?

Die Regatta in Potsdam, zu der wir mit Daniel fuhren, war die letzte in diesem Jahr, nicht mehr bedeutsam eigentlich, doch Daniels Trainer wollte ihn dem Direktor des Sportinternats vorstellen. Bert und ich stehen dem mit gemischten Gefühlen gegenüber. Wir wollen den Talenten des Kindes nicht im Wege stehen, doch fürchten wir, ein sportlicher Schwerpunkt schränke Daniel ein. Er kann so viel anderes auch gut. „Einmal“, sagt Bert, „wird er sich entscheiden müssen.“ Das Dumme ist: Er will sich nicht entscheiden und wir nicht für ihn. Daniel braucht Zeit. Das talentierte Kind ruht sich aus, nicht auf seinen Lorbeeren, sondern um sich zu sammeln. Er liebt das Rudern, die Bewegung, er liebt es zu siegen und er gewinnt oft. Aber er liebt es auch, verträumt am See zu sitzen und zu warten. Er ist verschwiegen. Ich weiß meistens, was in Carl vorgeht. Bei Daniel ahne ich es bloß. Wenn ich ihn frage: „Willst du ins Sportinternat?“, zuckt er die Achseln. Keine Antwort, denke ich, ist auch eine Antwort. Aber vielleicht bin nur ich es, die ihn nicht hergeben will. Daniel, das Kind, das an mir hing, wie Carl es niemals tat.  Carl ist stark und kann seine Schwächen eingestehen. Daniel ist so begabt und glaubt doch immer, sich verstecken zu müssen. Normalerweise fuhr nur eins von uns mit zu den Regatten, doch spürten wir, Bert und ich, dass Daniel uns in Potsdam beide dabei haben wollte. 

Er gewann, natürlich, mit einer Bootslänge. Bert schrie über den See: „Barnhelm. Barnhelm.“ und „Bravo.“ Daniel sagt manchmal hinterher: „Das ist mir peinlich, Alter.“ Er boxt Bert gegen die Schulter, aber dabei grinst er so schief über ihn hinweg, dass man merkt: Er freut sich doch. Nach der Siegerehrung stellte uns der Trainer den Schulleiter des Internats vor. Ein Angebot. Die Chance für Daniel ins Jugendnationalteam zu kommen. „Ein hervorragender Einer, aber ich könnte ihn mir auch im Vierer vorstellen.“ Daniels Traum, ich weiß es. Aber seine Augen leuchten nicht. Oder will ich das bloß nicht sehen? Schon bald wirst du aus unserem Alltag verschwinden, Sohn. Dein Bruder ging ein Jahr, das zerriss mich fast. Es wären doch nur 110 km. Nur? Ich will mich mit dir streiten morgens im Bad. Ich will deinen Geruch im Haus, die schmutzige Wäsche, die im Zimmer auf dem Boden liegt. Ich will mit dir leben noch ein paar Jahre, Daniel. Bert legte seinen Arm um meine Schultern, zog mich an sich heran. „Wir werden das heute nicht entscheiden, das verstehen Sie doch?“ Natürlich verstand er das. Aber das Gelände wolle er Daniel zeigen, die Internatszimmer, ein paar Lehrer vorstellen. Ich nickte Daniel zu: „Kannst es dir ja mal anschauen“, sagte ich. Bert und ich gingen zum See hinunter und setzten uns auf eine Bank. Berts Arm lag auf der Rückenlehne der Bank. „Schön hier.“ „Ja.“ „Er muss nicht. Aber er kann.“ „Ja.“ Ich legte meinen Kopf ab. „Wir bleiben zurück.“ Bert senkte seinen Mund in mein Haar. „Ich liebe dich.“ Ich küsste ihn auf die Wange. Er weiß es, dachte ich. Er weiß es und er will warten.

Auf der Rückfahrt schwiegen wir. Bert und ich fragten nicht: Wie war es? Hat es dir gefallen? Kannst du dir vorstellen, dorthin zu gehen? Daniel erzählte nicht: Sie haben großartige Krafträume. Ich kann mir nicht vorstellen, das Zimmer mit jemand zu teilen. Die Lehrer sind ok. Ich möchte nicht von zu Hause weg. Er schwieg. Wir schwiegen. Es war ein gutes Schweigen. Wir brauchen Zeit, sagte es. Wir lassen uns Zeit. Wir lassen einander. Bert legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Ich strich ihm über den Handrücken.

I don´t wanna have to say goodbye
Don´t wanna wipe the tear from your eye
I took this chance to write a message
It´s just to say that I´ll miss you.

„Guck mal“, sagte Daniel, als wir nur noch wenige Kilometer vor Neuglobsow waren. „Ist das nicht die Stelle, wo zwei mit dem Motorrad gegen den Baum gerast sind?“ Tatsächlich hing noch ein loses Ende vom Absperrband an der Platane. Sonst nichts. Keine Verwandten werden in der Mark Kerzen für Karim aufstellen. Keiner wird am Straßenrand halten, aussteigen und Karims Foto in einer Plastikfolie an den Baum pinnen. Seine Asche flog über die Ozeane, zurück nach Down Under und mit ihr Tomasz, der an jenem Nachmittag auf dem Rücksitz der Maschine saß, auf dem Weg nach Neuglobsow am Stechlinsee. Searching for Annie. Meine Schuld war es, wolltest du das sagen, Tomasz? Alles deine Schuld, Annie, nur deinetwegen fuhr ich mit Karim an den Stechlinsee, nur deinetwegen, weil du mich dort nicht haben wolltest, weil du es warst, die sagte, dort, Tomasz, dort hast du nichts zu suchen, dort lebe ich mit meiner Familie, meine Söhne, Tomasz, meine Söhne. I don´t like to talk about your sons.

Ich drückte Berts Hand fester, strich mit dem Finger seinen Arm hinauf und wieder hinunter und schob seine Hand tiefer in meinen Schoß. Er fuhr mit dem Daumen über die Innenseite meines Schenkels. Rette mich. Als wir in Neuglobsow ankamen, war es schon dunkel. Carl hatte eine Suppe für uns warm gemacht, deren derber Geruch uns im Treppenhaus empfing. Im Halbdunkel drückte ich mich an Bert und rieb meinen Kopf an seiner Brust. Nach dem Essen zogen sich die Jungs in ihre Zimmer zurück. Bert ließ sich in seinen Sessel fallen. Seine linke Hand griff schon nach dem Buch, doch zögerlich. Er sah mich an. Und ich kletterte auf ihn, suchte seine Lippen. Mann. Mein Mann. Ein König ohne Thron. Das war nicht wie Ertrinken. Das war Rettung. Du bist so warm und gut und klug. Halt mich fest.

And sometimes we don´t come through
Sometimes we just get by
But I know with you
I´ve never seen the devils´s eye.

Später, nach dem ersten Mal, trug Bert mich die Treppe hoch. Noch einmal liebten wir uns, heftiger und bewusster. Du. Immer du. Durch die Läden dringt das Morgenlicht. Bert wird früh aufstehen wie jeden Morgen. Seine Nasenflügel zittern schon. Dann werde ich mich umdrehen und noch einmal schlafen.

20100508

HAUS AM SEE (Let it go by)

05. November 2009  Neuglobsow am Stechlinsee, 12.55 Uhr (Central European Time CET)

Wenn ich Carl ansehe, fühle ich nun häufiger einen messerscharfen Schmerz in der Brust: mein Sohn, mein wunderschöner Sohn, dieser Gigant, den eine Kleine, den ich, gebar. Die schlaksigen Bewegungen hat er von Bert. Immer ziehen sie die Schultern ein wenig ein, manchmal aber den Nacken zierlich aufdrehend wie Wildkatzen. Dieser Kontrast ist so anziehend: das Riesige und das Zarte, die sich in dem Jungen vereinen, wie sie es in Bert taten, als er 1984 im November in seinen klobigen Stiefeln so bedeutend und abweisend durch die Mensa stakste, all die Blicke ignorierend, die ihm folgten, auch meine natürlich, dachte ich damals. Jemand sagte: "Da kommt d e r Barnhelm." D e r Barnhelm. Nur ich, so schien es, hatte den Namen noch nie gehört.

Heute Morgen waren wir allein, Carl und ich, und schlechter Laune. Bert war schon früh zum Institut für Limnologie hinüber gegangen. Daniel hatte bei einem Freund in Gransee übernachtet. "Hast du dein Bett aufgeschlagen?" Er verdrehte die Augen. "Shut up, Mum." "So redest du nicht mit mir!" Schon war ein schriller Ton in der Stimme. Er stand noch im T-Shirt da. "Willst du nix Wärmeres anziehen?" "Gib Ruhe." "Nicht in dem Ton, mein Herr." "Wo is´n mein gelber Kapuzenpullover?" "Ich wasche jeden Tag eine Maschine, Freundchen." "Was soll ich ´n dann anziehen, Lady?" "Ich hab´ dir gesagt: Nicht in dem Ton, hörst Du." Er drängelte sich an mir vorbei zum Küchentisch. "Nutella." "Glaubst du, ich stell es dir vor die Nase?" Er steckte seinen Ipod in die Radiostation und drehte den Volumenregler hoch:

Und die Welt hinter mir wird langsam klein.
Doch die Welt vor mir ist für mich gemacht!
Ich weiß: Sie wartet und ich hol sie ab!

„Was soll das? Ich hörte Deutschlandfunk.“ „Geh doch in die geriatrische Anstalt.“ „So nicht.“ Das war bereits ein Kreischen. Ich riss den Ipod aus der Station. Carl sprang auf. „Finger weg von meinem Ipod.“ „Was denn?“ Auf meiner Schulter saß das Kapuzineräffchen: Wie lächerlich, wie lächerlich. Jetzt gibt´s ´ne tolle Show. „Gib meinen Ipod her.“ Das eingebildete Äffchen lachte sich fast tot. Selbst dein Balg tanzt dir auf der Nase herum. Und Mr. Hell down under hat in jedem Arm ´ne andre. Ich warf den Ipod quer durch die Küche. Carl jaulte. „Du hast sie nicht mehr alle. Vollkommen bekloppt.“ Er bückte sich, um sein Gerät aufzusammeln. „Wenn der kaputt ist...“ Nicht ganz bei Trost. Ein Toast. Ein Toast. Das Äffchen tobte triumphierend. Hurra. Hurra. „Was dann? Schlägst du mich dann? “ Ich baute mich vor ihm auf, versuchte, ihm den Ipod aus der Hand zu schlagen. „Du spinnst total.“ „Wie redest du mit mir?“ „Wie du´s verdienst. Lass mich durch.“ Ich stellte mich zwischen ihn und die Tür. „Lass mich durch.“ „Nein. Entschuldige dich.“ „Wer hat denn hier Sachen geworfen, Madam? Entschuldige du dich.“ „Ich lass dich nicht durch.“

Wir stehen ganz dicht voreinander. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzuschauen. Wir schnauben wie aufgescheuchte Ratten. Beide. Er hat Berts Körperbau, aber meinen Jähzorn. Jetzt geht´s los. Das Äffchen hat seinen Spaß. „Lass mich durch.“ „Nein.“ Carl packt mich an beiden Schultern. Ich mache mich steif. „Nein.“ Seine rechte Faust ballt sich, er drückt zu, mit seinem ganzen Körpergewicht gegen meine Winzigkeit. Ich falle, knicke um und rutsche in die Ecke. Der Schock treibt mir die Tränen in die Augen. Carls Arm fällt herab. Ich bleibe aber nicht sprachlos: „Das war´s.“, kreische ich, „ Asozial.“ Es hat sich soviel angestaut. Jetzt heule ich das mal laut raus. „Du oder ich“, schreie ich. "Meinst du, das lasse ich mir gefallen?“ Ich stehe schon auf dem ersten Treppenabsatz, will hoch, ins Schlafzimmer, den Koffer vom Schrank reißen. Weg. Weg. Weg.

Carl hat noch kein Wort gesagt. Aber er ist mir zum Fuß der Treppe gefolgt. „Mama. Bitte. Es war ein Versehen.“ „Soll ich mich im eigenen Haus vor meinem eigenen Sohn fürchten?“ Im Schlafzimmer knalle ich die Tür hinter mir zu, schließe ab. Carl hämmert gegen die Tür. „Mach auf, Mum. Es tut mir leid.“ Ich lasse mich auf das Bett fallen, heule schon wieder ganz laut. Ich kann mich jetzt nicht beherrschen. Es ist alles zuviel. Diese Falle Neuglobsow, die doof-freundlichen Gespräche in der Kaufhalle, das geheuchelte Interesse für die Veranstaltungen im Stechlinseehaus („Wollen Sie nicht mal einen Vortrag halten, Frau Barnhelm? Sie geben doch Seminare an der Uni, oder?“), Mr. Hell und seine Verachtung. Am schlimmsten aber ist Berts Zufriedenheit. Nichts fehlt ihm hier. Er forscht, er liest, er geht spazieren. „Schön ist es in Neuglobsow am Stechlinsee. Ideal für die Kinder.“ In den Schlaf geweint habe ich mich in den ersten Wochen. „Aber sieh doch die herrliche Landschaft...“ Ich bin einsam, Bert. Die Lehraufträge, die Wohnung in der Weinertstraße; das waren Lichtblicke und zuletzt Tomasz...Aber durch ihn wurde am Ende alles noch viel schlimmer.

„Mum. Bitte. Ich muss zum Bus. Mach auf. Es tut mir leid.“ Carl rüttelte am Türknauf. Ich rührte mich nicht. „Mama. Ich muss gehen.“ Ich hörte, wie er die Treppe hinunter rumpelte. Ich sprang auf. „Wenn du jetzt einfach gehst, dann bin ich weg, wenn du zurückkommst.“ Carl schaute aus dem halbdunklen Treppenhaus hoch zu mir. Seine Augen glänzten feucht. „Mama.“ „Ich kann nicht mehr, Carl.“ Er rennt zu mir hoch, presst meinen Kopf an seine flache Brust, wir halten uns fest  und heulen jetzt beide, hemmungslos laut. Schließlich ziehe ich ihn vor den Spiegel im Flur. Unsere Augen sind rot, die Haut ist fleckig, die Nasen tropfen. Wirr hängen unsere Haare in die Gesichter. Carl legt seine Hand in meinen Nacken. „So kannst du dich nicht blicken lassen in der Kaufhalle.“ Er grinst mich im Spiegel an. „Du dich aber auch nicht in der Schule.“ Wir schauen uns quer über Bande an: 
Braunauge an Grünauge, Grünauge an Braunauge. 
(Hey, die Blauaugen sind ausgeflogen, hihi) 
„Wollen wir blau machen?“, frage ich.
Mütter sollten das nicht tun. Ach was. Jetzt nehmen wir uns das einfach. Wir gehen ins Schlafzimmer zurück. Carl lässt sich auf die linke Seite des Bettes fallen, Berts Seite, streckt den Arm aus, damit ich mich in seine Armbeuge legen kann. Wie sich alles verkehrt hat: In meiner Armbeuge hat das Kind gelegen, um Trost zu finden, wenn er sich angeschlagen hatte, wenn er gehänselt wurde, wenn ihm was schief gegangen war. Wollte ich ihn jetzt so in die Arme nehmen, dann wirkte es grotesk. Die Zwergin will den Riesen halten. „Scheiße, Mummy.“, sagt er und deutet auf den Koffer, den ich vom Schrank gerissen habe. „Willst du wirklich fort?“ Er fragt es nicht in einem Ton, der nur ein „Nein“ erlaubt. Er will eine Antwort. Zwischen Carl und mir geht das, was zwischen Bert und mir schon lange nicht mehr möglich ist. Bert bricht sowas ab, versperrt sich hinter Zärtlichkeit, im schlimmsten Fall geht er schlafen. Aber ich muss aufpassen, darf den Jungen nicht missbrauchen, darf ihm nur erzählen, was er wissen will.
„Ja, manchmal will ich fort.“ „Wohin?“ „Weiß nicht.“ „Ich versteh dich. Als ich im Sommer aus Chicago zurück gekommen bin, hatte ich auch das Gefühl hier zu ersticken.“ „Genau. Nichts scheint sich zu bewegen.“ „Außer dir.“, Carl lacht. Das ist ein Running Gag zwischen den Jungen: meine körperliche Unruhe, dieser Bewegungsdrang. „Rund um den See, jeden Tag. Die Yoga-Übungen. Das Rudern.“ „Tut mir gut.“
„Wenn ich das Abi in der Tasche habe nächstes Jahr, gehe ich wieder nach Chicago.“ Ich streiche ihm durchs Haar. „You´re hometown.“ „Dort bin ich geboren." „Wie geht´s Bo?“ Carl verzieht das Gesicht. „Sie schreibt, dass sie mit  einem Typen zum Konzert von Death cab for cuties geht.“ „Was für ein Typ?“ „Danny. Ich kenn den auch, er ist o.k. Trotzdem.“ „Davon musst du runter. Sonst geht das nicht mit so einer Fernbeziehung.“ „Klar.“ „Gefühle kannst du eh nicht kontrollieren.“ „Eben.“ „Deine auch nicht.“ „Ich liebe sie.“ Es ist schwer, als Mutter etwas dazu zu sagen. Ich nehme das ernst. Er fühlt das so. Aber – wie dauerhaft ist die Liebe eines 17jährigen? Er verteidigt sich schon, bevor ich etwas sage. „Du warst auch nur zwei Jahre älter, als du Papa kennengelernt hast.“ Das stimmt.
„Es wird schwer für dich, Mama, wenn ich nach Chicago gehe.“ Carl wusste das genau. Die Last, die ich ihm auflegte, ohne es zu wollen, ohne es verhindern zu können. „Ich will, dass du gehst. Wenn es das ist, was du willst. Weißt du doch.“ „Du schicktest mich sogar. Und es war die beste Entscheidung. Das war ein tolles Jahr.“ „Du wärest gerne dort geblieben.“ „Ja. Und Nein. Ich liebe dich, Mama.“ Ich drückte meinen Kopf in seine Armbeuge. „Das weiß ich. Ich liebe dich auch, Carl.“ Ich flüsterte es in seine Achselhöhle, man konnte es kaum hören. Chicago, windy city blues, mit meinem Baby im Arm unter dem Loop... „Erinnerst du dich noch an etwas aus der Zeit bevor wir nach Deutschland gingen, Carl?“ „Den Loop. Das Geräusch der Bahnen. Da bin ich zuhaus. “ Ich schließe die Augen. Mein Junge. Das Rattern der Züge. Der Mann, den ich nie treffen werde. Kein Mister Hell. Kein Bär. Doch für eine andere kann er es sein, die Hölle, die Resignation. Das kann ich nicht wissen.

Ein Frauenchor am Straßenrand, der für mich singt!
Ich lehne mich zurück und guck ins tiefe Blau,
schließ die Augen und lauf einfach geradeaus.
Und am Ende der Straße steht ein Haus am See.
Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg.
Ich hab 20 Kinder, meine Frau ist schön.

Carl rückte von mir ab, um mir in die Augen zu schauen. „Du weißt, dass es für Papa o.k. wäre, wenn du wieder in einer Band spielst.“ „Wie kommst du darauf?“ „Ich habe dich auf MySpace gehört mit der Band von dem Australier mit dem ungarischen Namen.“ „Wie bist du auf die ´Poor Heirs´ gestoßen?“ „Er hat mir von der Band erzählt. Als wir ihn im Herbst vor den Hackeschen Höfen getroffen haben. Nachdem du rein gegangen bist, um die Bären-T-Shirts für meine Cousins zu kaufen. Da hat er sie erwähnt.“ Tomasz hatte das absichtlich getan, diese Spur gelegt. „Und du hast mich erkannt?“ „Deine Stimme, klar. Spielst Du auch das Schlagzeug?“ „Ja.“ „Mann, Mama, das ist gar nicht schlecht.“ Ich stupste ihn in die Schulter. „Ich bin kein Mann. Und froh drüber.“ „Warum machst du so ein Geheimnis draus? Für Papa wäre das kein Problem.“
Bert würde nichts dazu sagen. Sein Schweigen verletzt mehr als es jeder lautstarke Streit könnte. Ich kann nicht einschätzen, ob es Selbstschutz ist oder Gleichgültigkeit. In Ordnung ist, dass seine Frau in Berlin ein paar Seminare gibt. In Ordnung ist, dass sie dort eine kleine Wohnung hat, für den Fall, dass es einmal früh anfängt oder spät endet. In Ordnung ist, dass sie Freunde hat, die er nicht kennt und nicht kennen will. Das ist alles in Ordnung. Es bleibt alles in der Ordnung, solange ich nicht darüber rede. Solange ich keine Unruhe stifte, solange ich nicht hoffe, dass er Anteil nimmt an dem Leben, das mich ausmacht, sondern mich immer wieder einfüge in sein Leben. Er glaubt, wenn er Ruhe gibt, komme ich immer zurück. 
„Was hat er noch erzählt, der Australier?“ War mein Tonfall falsch? Carl drehte mir den Rücken zu, während er aufstand: „Eigentlich nichts. Dass er dieses Stipendium hatte. Und dass er zurück gehen wollte nach Sydney.“
Carl ging ins Bad. Ich hörte das Wasser laufen. Er wusch sich. Dann rief er: „Willst du da hin? Nach Sydney?“ Ich antwortete nicht. Das Wasser lief weiter. Es wurde abgestellt. Carl stand in der Tür mit nassem Haar. Er wartete auf eine Antwort. Er hatte eine verdient. „Es ist eine tolle Stadt: ´Darlinghurst nights´ von den GoBetweens. ´I opened a notebook. It read the Darlinghurst years...“ Er fiel in den Refrain ein: "Gut rot cappucino, gut rot spaghetti, gut rot rock´n´roll through the eyes of Frank Brunetti. And always the traffic, always the lights. Joe played the cello through those Darlinghurst Nights." Dann stand ich auch auf.
Als ich mich in der Tür an ihm vorbei drücken wollte, griff er mir mit beiden Händen um die Taille, hob mich hoch, ließ mich oben zappeln. „Wie leicht das geht.“ „Lass mich runter.“ „Und wenn nicht?“ Wir lachten. Wir waren wieder im Alltag. Das ist ein Spiel, das wir oft spielen. Er setzte mich ab.„Vergiss nicht, mir eine Entschuldigung zu schreiben für heute.“ „Klar.“
– - - - Den Blauaugen erzählten wir nichts. Das brauchten wir uns nicht zu sagen.
Das Kapuzineräffchen feixte. Du bist vielleicht ´ne Mutter. Mütter tun das nicht. Was denn, verdammter Affe? Was denn: ich liebe den Jungen. Weißt du schon.

Anybody else, anybody else,
but I let it go by

20100412

KRISTALLKLAR (Now, you´ve been thrown)

10. November 2009, Neuglobsow am Stechlinsee, 02:34 Uhr (Central European Time CET)

Gestern: 20 Jahre MAUERFALL - auf allen Titelseiten, in aller Munde, Feierlichkeiten auf allen Kanälen - auch Mr. Hell, wie sich zeigte, hatte es nicht vergessen.

8.54 Uhr CET - Tom Hell send you a message:
Bist Du wach, Annie? Kommst Du auf Facebook?

9.03 Uhr CET - Tom Hell posted on your wall:

Ich loggte mich auf Facebook ein. Kommentierte: "If only you were here, Tomasz, right here." Dann öffnete ich den Chat:
-Hi, Tomasz. Good morning.
Hier es ist Abend, luv. Sieben Uhr.
- Guten Abend dann, Tomasz.
Wie geht es?
- Missing you. And him...
You could be here. Annie.
- You know...
Hell, Annie. Talked about it a thousand times. I want you.
- Ich bin sechzehn Jahre älter als du.
Damn it.

You say your undone by his kiss
But don´t you think 
That for once in your life
It should be like this

Your hands are tired
Your eyes are green

- Ein neuer Song?
Always TRAIN SPACE. Your voice. The funny accent. No one like you. Like him.
- Mein Sohn hat es auf My Space gehört und mich erkannt.
So what? But I don´t like to talk about your sons.
- Kein neues Lied?
One. I´ll send it.

Die Datei war binnen Sekunden auf meinem Rechner. Wunder der Technik. Von Sydney nach Neuglobsow am Stechlinsee. Ich hörte mir das Lied an: MINDLESS. Psychedelische Syntheziser-Klänge. Rauhe Bässe. Ein düsterer, hasserfüllter Songtext, schließlich ins Schwülstige abgleitend. Oh Tomasz. Ohne Karims sanfte Ironie wird alles, was du machst Kitsch.

Like it?
- Ich bin nicht sicher. Diese Blutorgie am Anfang. Dann die Nymphen. Dieser Mix aus Gothik und Barock. Ich weiß nicht, ob ich das mag.
I like to mix it all. 
- Ja. Ich weiß. Am Ende: keine Revolution, sondern eine Restauration. I think, it´s Marie Antoinette herself who would understand you best. 
You´re joking. - But why not? I could grab Her Majesty, use her body, afterwards we eat a cake, then I cut off husband´s head and run away with her.
-Use her body? She´d use yours!
Yeah, I´m young and beautiful. But - AS YOU KNOW - I like to dominate. Annie.
- So you´d use her. Run away with her. In the end you´d be stucked with a fortysomething, an elderly lady.
Haha. I wouldn´t care if her body would be .... useful....
- Asshole.
Damn it, Annie. What´s that about? Should I love your immortal soul? No, I love your body - a woman in the body of a girl.
-That´s all bullshit. Haven´t you seen the stripes on my hips?

(Und die fingerkuppengroße, kreuzförmige Narbe an meinem Nabel von der unumgänglichen Sterilisation. - Das schrieb ich nicht. Das nicht.)

That you´re made of steel
But don´t you think that
For once in your life
You should be made to feel

You´re hands are tired
You´re eyes are green

Annie. I´ve seen Annie-Thing and everything and I love it. Love you. Love the ways you´re making love ... To me.  I just don´t love your low self-esteem.
-So it´s all about sex?
Yeah, it´s all about fucking you. Fuck you. Annie. Would I talk to you now if I´d think that? If I´d feel that? Ich will dich.
- Es geht nicht. Oceans Apart.
Wo bist du? Im Bett?
-Nein. An meinem Schreibtisch.
I want you to be a part of me.
-Aber ich bin hier. Und du bist dort.
Anywhere. Everywhere. Just trust me.
- Tomasz, I have to work. Love you, dear.
Always the same. No Cybersex. Not with SoberAnnie.
- Das ist nicht fair.
We can´t be all tied down.
I´m not tied down.
Marriage is a prison.
- The boring book of love.  Remember?
I´d spin you around.
- I lost myself with you.
I found you. I hold you.
- Ich muss mich wiederfinden. Wie ich leben will.
You fucking Germans. Always taking the fun away. Why are you so serious?
-That´s the way we are. 
The German ANGST. I know, I know, my bloody German lady. By the way: Congratulations. The German Schicksalstag. Mauerfall.
- Es ist auch der Tag der Kristallnacht. Vergiss das nicht.
You Germans were always strong and powerful. You should rule the world.
- Ich bin kein Nazi!
You said it. Not me. Just do what I tell you.
- Stop it, Tom.
You will obey.
- No. I´m not your puppet. Ich will das nicht.
You germans are philosophers not masturbators.
- Warum tust du das?
Because I can. Fuck you Annie. Bye. I´m watching the Simpsons now.

Tom Hell is offline. In den kommenden Stunden schaute ich immer wieder nach, ob er noch eine Nachricht hinterlassen hatte, während ich an der Vorbereitung meines Seminars arbeitete. Keine Nachricht von Tom Hell auf Facebook. Keine e-mail für armgardbarby@googlemail.com. Es war nicht unser erster Streit. Aber dieses Ende fühlte sich böse an. Er schaute die Simpsons fast jeden Abend. Fuck you, hatte er auch schon öfter geschrieben (nie gesagt). "Ich tue es, weil ich es kann." Das klang nach Serienmörder. Ich werde Tomasz nicht wiedersehen. Zu mir spricht nur noch der Irre Tom. Der Schwarze Ritter flog nicht ins Down Under. Er blieb bei mir. Die kindischen Spiele. Diese wahnwitzige Lust.

Der Tag ging irgendwie rum. Ich lief einmal um den See. Die Jungen kamen nach Hause. Ich kochte das Abendessen. Bert kam ins Haus. Wir aßen. Um 19.00 Uhr begann ein Vortrag im Stechlinsee-Haus: "Neuglobsow und die deutsche Einheit". Ich hatte Ulla versprochen, dass ich kommen würde. Meine Versprechen halte ich. Ich hörte kein Wort, das dort gesprochen wurde. Immer nur "Fuck you, Annie." Tonlos.

In der Nacht fand ich seine letzte Nachricht auf Facebook: "I´m fucking sick of thee, Annie." (2:24 CET)

20100307

ABFLUG ("Right here. Right here.")

16. November 2009, Flughafen Frankfurt am Main, Terminal 2, 22.53 (Central European Time CET) 

"Passagiere für den Flug Qantas Airlines 005 nach Sydney über Singapore bitte zum Gate 22. Passengers for Flight Q 005 to Sydney via Singapore..." Die Maschine startet um 23.05 CET. Ich werde fliegen. Mitten hinein fliegen in meine Hölle. Ich werde keine Rücksicht nehmen und keine Vernunft walten lassen und an niemanden denken, nur an meine Sucht, meine SEHN-Sucht nach Mr. Hell.

"Right here. Right here. I´m keeping you right here."

"Kann ich bitte Ihren Pass sehen?" Ich lege meinen Reisepass vor, in den seit dem 9. Oktober ein gültiges Reisevisum eingeheftet ist. Ich bin ausgestattet mit zwei Kreditkarten, auf Konten angemeldet, auf denen - nach Abzug der Kosten für die Flugtickets - noch exakt € 23.007, 45 gutgeschrieben sind. Es wird eine Weile reichen. "Du bist feige." Ich bin nicht allein, Mr. Hell. My sons. Nicht daran denken. Heute morgen habe ich es gewusst. Es geht nicht mehr. Ich verbrenne von innen.

Montag, der 16. November 2009, 4.35 CET in Neuglobsow am Stechlinsee. 14.35 ACST (Australian Central Standard Time). Mr. Hell liegt zwischen Bikinischönheiten am Bondi Beach. Ich zog am Posament. Das Wasser rauschte unter mir weg. Eigentlich war die Spülung überflüssig. Ich war aufgestanden, weil ich nicht länger mit offenen Augen liegen bleiben konnte, den schweren Körper des Bären neben mir. Die Zufriedenheit des unschuldigen Bären war das schleichende Gift, an dem ich erstickte.

Ich tappte zurück ins Zimmer, durch die Läden drang das Grau des frühen Novembermorgens. 4.53 Uhr zeigte der Wecker über dem Kopf des Bären. Ich griff die Jeans vom Stuhl, die Trainingsjacke, die Unterwäsche von gestern, egal. Ich musste raus. Der Bär schnaufte und wälzte sich auf die andere Seite. Im Flur zog ich mich fröstelnd an, die Laufschuhe standen vor der Eingangstür auf der Treppe. Rennen, wegrennen. Zum See.

Montag, der 16. November 2009, 5.30 CET. Der 7. Tag ohne Nachricht aus dem Höllenkreis. Ein weiteres Wochenende vergeblichen Wartens, der Versuche unauffällige Ausreden zu erfinden, warum der Rechner hochgefahren werden muss. "Ole wollte mir eine Mail schicken, ob wir in der nächsten Woche eine Sitzung haben." Dann schnell den geheimen e-mail-Account aufrufen, Skype, facebook - die Verbindungslinien zu Mr. Hell in die andere Welt, DOWN UNDER. Noch immer kein Post, kein Wort, kein Zeichen, nirgends. Letzte Nachricht vom 10. November 2009, 20.24 ACST: Tom Hell send you a message: "I´m fucking sick of thee." Halbdrei Uhr nachts in Neuglobsow am See. Dann nichts mehr. Tom Hell is offline.

Ich blieb online. Netz-Stalkerin auf der Suche nach Spuren von Mr. Hell. Nirgends ein Zeichen, dass Tom Hell online war, seit 10. November 2009, 2.24 CET. Anne B. send you a message: "I will - come. I will. Pls." November 10th 2009, 7.45 CET. Viertel vor sieben in Neuglobsow am Stechlinsee. Anne B. send you a message: "Where are you, T.H.?" November 10th 2009, 8.04 CET. Prime time in Darlinghurst. Are the Simpsons still on? Keine Antwort. Anne B. send you a message: "Pls. answer. Tom.", November 11 th 2009, 0:34 CET. Halbeins in Neuglobsow am Dalchowsee.

"Right here." - Die rauhe Decke auf der Gästeliege, deine Daumennägel ritzen rote Streifen in meine Haut. "I´m keeping you right here." Where have you gone, Mr. Hell? Ich wollte noch in die Erich-Weinert-Straße fahren, die Decke holen mit deinen Spermaspuren drauf. Mein Gastgeschenk für Deine Höhle dort unten. Deine Markierungen, Tomasz, Dein Geruch, den ich mitnehme und mitbringe, Dir da lasse, wenn Du mich vor die Tür setzt. Wirst Du mich vor die Tür stellen? "I´m fucking sick of thee, Annie."
Tausendmal habe ich den Text des letzten Chats analysiert. Was schriebst Du? Was schrieb ich? Wann schlug die Stimmung um? "We can´t be all tied down." "I´m not tied down." "Marriage is a prison." - "The boring book of love." Es schlief im Zimmer nebenan. Jede Nacht hörte ich die ruhigen Atemzüge des Bären. Er ahnte es. Aber er sagte nichts. Er wartete, dass es vorüber geht. Wie alles vorüber ging. Er blieb.

Am Seeufer flossen endlich die Tränen. Tomasz. Ich hatte auch nach deinem bürgerlichen Namen das Netz durchforstet. Kein Hinweis auf Tomasz Hosni seit April 2008. Dein Name aufgeführt in der Teilnehmerliste eines Deutschkurses am Goethe-Instituts Berlin. Kursleiter(in): N.N. Annie. Niemand sonst nennt mich Annie, Ännie, mit ä und langgezogenem i. Tomasz. In Berlin habe ich dich niemals Tom genannt. Tom Hell, der Höllenmann, der virtuelle JOKER, der mich vernichtet, der mir sagt: "Fuck you." Tomasz hätte das nie gesagt. Ach was, Tomasz hat das gesagt, mit anderen Worten, mit Taten, Tomasz hat das getan. Fuck you. Annie.

Zum Frühstück war ich zurück. Bert hatte den Buben die Pausenbrote schon gemacht. "Ich brauchte ein bisschen Frischluft." "Kein Problem." Bert küsste mich auf die Wange. Carl schlug den Sportteil auf: "Läuft Scheiße für die Hertha." "Die Hertha ist Scheiße." Die Gelegenheit ließ sich Daniel nicht entgehen. Schon waren sie mitten drin im Bruderzwist. Dann die übliche Hektik beim Aufbruch. Bert verabschiedete sich: "Und was steht bei dir heute auf dem Programm?" "Ich muss mein Seminar vorbereiten. Am besten fahre ich heute Nachmittag schon nach Berlin und übernachte in der Weinert-Straße. Ist das o.k.? Dann habe ich morgen nicht so viel Stress." "Klar. Wir kommen zurecht, weißt du doch." Er küsste mich. Die Tür schlug hinter ihm zu. Ich sah ihm nach, wie er den Schotterweg hinunterlief, nach links abbog, die wenigen Schritte durch den Wald zum Leibniz-Institut.

Ich rannte die Treppe hoch. Den Computer anwerfen, bitte, bitte, Mr. Hell, send me a message. 7 neue Nachrichten an annebarnhelm@web.de. Keine Nachricht für armgardbarby@googlemail.com. Tom Hell is offline. Tomasz Hosni was never online. Die Schreibtischschublade stand halboffen. Burgunderrot lugte der Reisepass hervor. Expedia. Ein Flug nach Sydney, Qantas: Abflug 16. November 2009, 23:20 FRA, Ankunft in Sydney um 6:25 am 18. November 2009. Ich wollte nur probieren, ob man wirklich noch für heute Nacht einen Flug buchen könnte. Dann ging es ganz schnell. Die Kreditkartennummer eingegeben, Geheimzahl, gebucht.

Ich habe einen Flug nach Sydney gebucht. Ich sitze im Zug nach Frankfurt am Main. Draußen gleitet die norddeutsche Tiefebene vorbei. Herr Hölle, ich komme. Ich beweise es: "I´m not tied down." Die Zeit hat nicht gereicht, um in der Weinert-Straße vorbeizufahren. Das Auto habe ich in Potsdam abgestellt. Kein Gastgeschenk für den Herrn der Hölle. Ich bringe nur mich. Ich habe keinen Rückflug gebucht. Aus der Hölle gibt es keine Wiederkehr.

Ankunft in Frankfurt/Hauptbahnhof um 19.44 Uhr. Ich greife nach meinem kleinen Boardcase. Ich werde kein Gepäck einzuchecken haben. In der Hölle wird alles neu sein. Aussie-Relaxed-Style: Converse-Treter, Shorts, Bikini-Oberteile. Frauen in meinem Alter sollten keinen Bikini tragen. Ich habe diese kurzen hellen Schwangerschaftstreifen an den Hüften, drei links, drei rechts. Ich trage Badeanzüge. Mr. Hell: "I hate California Girls." Und Bondi-Beach-Girls? Er hasst es, wenn ich von meinem Alter rede. "If anything else fails just blame the damn time space continuum." Oder von meinen Söhnen. "You´re a mother of beautiful sons. - I´m feeling sick." Ich komme, Mr. Hell.

Problemlos lassen sie mich durch die Kontrollen. Ich kaufe einen SPIEGEL. Auf dem Titel Robert Enke, der Fußballtorwart, der sich umgebracht hat. "Melancholia. It chooses the ones it wants." "But she´s beautiful, isn´t she?""Angel child."

Mein Mobile vibriert: "Flieg, Schwesterherz. Flieg. See you in Singapore. Melusine." Mir wird heiß, ich muss den Mantel aufknöpfen. MELUSINE. "Been fifteen years since we spoke. The wounds have healed on my throat."


"Passengers for flight Q 005 to Sydney via Singapore..." Ich stehe auf, hebe meinen kleinen schwarzen Koffer hoch, gehe auf das Gate zu. Das Mobile klingelt erneut, mit einer Hand fingere ich es aus der Manteltasche. Carl schreibt: "Kannst du mir Bd. 8 von Y. The Last Man mitbringen? Danke, Mama." Last Man. Der l e t z te Mann? Daniel. Carl. Bert. - My men. Anne. ABCD. Barnhelm.




Melusine, Melusine...

"Don´t know where I´m going,
don´t know where it´s flowing,
but I know it´s finding YOU."

"Ihre Bordkarte, bitte."