BRIEFWECHSEL EINER MELUSINE MIT ALBAN NIKOLAI HERBST (TEIL 4)



Es waren zwei Wochen, in denen anderswo wohl manches geschah. Ihr war nichts als ein eiserner Ring um die Brust gelegt. Denn sie fand sich zurück aus den Wassern und hielt still, was zu lernen war. Die Traurigkeit, die sie sich angezogen hatte wie ein grünlich schimmerndes Kleid, verging, weil sie sich entschied, dankbar zu sein für die Narzissen und Tulpen vor dem Haus. Sie setzte neue Knollen und ergab sich einem Glück, das sie schon kannte. Nach der Messe wurde der Briefwechsel wieder aufgenommen.


Herbst schrieb am 26. und 28.  und 30. März 2010:

Liebe Melusine, nah und ferne gehen so oft ineinander über; es ist rein eine Frage der Perspektive.
Jedenfalls für den G e i s t.
Nur das Schwierige ist anregend;
nur der Widerstand, der uns herausfordert,
kann unser Erkenntnisvermögen
geschmeidig krümmen, es wecken
und in Gang halten.
José Lezama Lima, Die amerikanische Ausdruckswelt
Ich setze das Zitat nicht hierhin, weil Lezama Lima noch irgend Gewicht in der öffentlichen Wahrnehmung hätte, sondern weil ich glaube, daß er recht hat und nicht nachformulieren möchte, was schon gut bei ihm steht. Wobei Brecht kein gutes Beispiel ist: keiner ist, abgesehen von den Gedichten, „handlicher” als er. Gerade die Brecht-Lieder leben doch von ihrer agitatorischen Allgemeinverständlichkeit und stehen geradezu auf der anderen Seite Schönbergs Herzgewächsen gegenüber, denen Hans Wollschläger ein leider nie vollendetes Buch schrieb. Es stellt sich in der Kunst ohnedies nicht die Frage, nur im Kunstgewerbe, für wen etwas sei; allerdings war es - oder schien zu sein - in den experimentellen und/oder seriellen Künsten, wie >>>> Dieter Schnebel zu recht moniert hat, eine Zeit lang en vogue, nicht-eingeweihtes Publikum von vornherein auszuschließen. Das hat „der” Kunst nicht gutgetan, und zwar auch dann nicht, wenn es mitnichten zugunsten elitär-begüterter Kreise geschah; diese hatten für die, so drückt es der bis heute mißachtete >>>> Allan Pettersson aus: „seriellen Exerzitien” der Neuen Musik mindestens s o wenig übrig wie die „Arbeiterklasse”.
In der „Hoch”-Literatur haben wir für das Phänomen, auf das ich mich hier beziehe, eine mindestens ebensolche anorektische Doktrin gehabt; erst die Südamerikaner, auch schon US-Amerikaner wie Gaddis lösten sie für weniger enge Kreise auf. Will sagen: das alles hat sich zu großen Teilen in einer Lebensfeindlichkeit ausgedrückt, die ich gern als Meaculpismus verspotte. Es war also, insgesamt, eine Kunst für definierte, nicht aber elitäre Gesellschaftskreise im pekuniären, bzw. Macht-Sinn; man kann sagen: es sind Glasperlenspiele gewesen.

Dagegen standen immer Solitäre, auch hier in Deutschland; ich nenne stellvertretend Arno Schmidt, der ein großer Humorist ist, nenne Wolf v. Niebelschütz, nenne Alfred Vigoleis Thelen, Heinrich Schirmbeck, Hermann Stahl, auch, als Lyrikerin, Christa Reinig. Ich halte es künstlerisch ohnehin für ein Problem, wenn man Zugehörigkeit hat, sei es zu einer „Generation Pop”, sei es zu einer Sozialität, sei es zu einer Glaubensrichtung: so etwas hat immer einiges von Kirche. Und zwar, ja, Bildende Künstler wie Beuys konnten ihre Schüler gut zum „Mitmachen” auffordern, konnten das immer auch zu einem Teil ihrer Kunst machen, doch die letzte „Arbeit” des Verstehens, Einfühlens usw. wird immer im Einzelnen liegen, und jeder für sich selbst wird sich damit auseinandersetzen müssen oder es halt bleibenlassen. Jeder von uns stirbt allein, auch dann, wenn man uns begleitet, vielleicht die Tür zu öffnen hilft: auf die Schwelle treten nur wir selber und gen dann ganz alleine weiter. Genau hier berührt sich der Tod mit der Kunst, sei sie noch so lebendig.
Weshalb ich nämlich Lezama Lima zitierte: wir können niemanden teilhaben lassen, der nicht von sich aus teilhaben w i l l und sich darauf ausrichtet. Lehrer richten ihn n i c h t aus, jede Pädagogik versagt. Was i s t denn, jenseits seines Werkes, mit den Werken, soweit sie „demokratisch” sind, der S c h ü l e r Beuys’? Ist nicht unterm Strich allein die Behauptung geblieben, so, wie von den anfangs „guten” Absichten des sozialistischen Realismus’ nur eine Behauptung blieb, die schließlich zu Kunstverbannungen, Inhaftnahmen und dergleichen führte? Erst dort, wo draus ausgebrochen wurde, etwa bei Schostakovitsch, ist dann wieder die Kunst da: nämlich als mehr oder minder verschleierter Widerstand und eine, vor allem in seinem kammermusikalischen Spätwerk, ziemlich abgründige Subversion. Daß sie auch „gebrauchbar” sei, spricht nicht gegen sie, da gebe ich Ihnen völlig recht. Ich bin nie ein Feind der „Unterhaltung” gewesen, wohl aber der industriellen, die ich mit dem US-Wort „Entertainment” benenne, im Gegensatz etwa zum „Divertimento”: die Begriffe meinen Ähnliches, aber haben verschiedene Kerne.

Womit wir beide wohl sehr einverstanden sind, sind die Neuen Formen; es sollten aber Formen s e i n, sowohl in der technischen Hinsicht (Bücher sind ja nur Gefäße) als auch in der der verwendeten Mittel. Deshalb kann ich Ihnen beim Pop so wenig folgen. Verwendet er neue Mittel oder transferiert solche aus anderen Musikformen, vor allem dem Jazz, dann ist es kein Pop mehr; zumindest populär müßte er sein, u m es zu sein. Auf das Gehabe kann es sich wohl nicht beziehen, auf Markenkleidung, Haarschnitt usw. Sonst wäre auch Neue E-Musik Popmusik gewesen, gerade in ihrer strengen Erscheinung, wo alle bis heute nur in Schwarz rumlaufen. Es spricht nicht gegen den Pop, daß man weint, wenn man ihn hört; es spricht gegen ihn, w e s h a l b man da weint, daß dieses Weinen produziert ist und entfremdet wird, Marktkalkül wird, als setzte sich ein Autor hin und schriebe, damit seine Leser was zu weinen kriegen. Tun manche. Dann ist eben auch Pop.

28.3.
Persönlich rühren meine Erfahrungen mit dem Pop aber anderswo her. Ich bin ein Außenseiter gewesen, seit ich denken kann: das meint auch, daß man mich schlug. Es gab Schulterschlüsse meiner Grundschul- und Gymnasiellehrer mit ihren Schülern gegen mich. Alledie hörten das, woraus der heutige (den Begriff und das unterdessen totalitäre Phänomen gab es noch in den frühen Siebzigern nicht) Pop geworden ist, auch übrigens meine eigene Familie. Hier hörte man Schlager, meine Mutter hörte Chansons und ein bißchen Beethoven; ich entdeckte „meine” Musik für mich selbst, indem ich die Schallplattentruhe meiner Großmutter durchstöberte und auf eine Reihe „Querschnitte” stieß. Dann kam Svjatoslav Richter nach Braunschweig. Damit waren die Weichen gestellt. Ich war da, glaube ich, dreizehn.In diese Musik grub ich mich ein, sie schützte mich, sie war eine Höhle vor der, kindlich gesprochen, bösen Welt. Kontakt zu anderen, die hörten wie ich, oder doch ähnlich, bekam ich erst in meiner Berufsschulzeit, knapp zehn Jahre später, in Bremen, saß dann unversehens zwischen Stockhausen und Wolf Vostell. Die beiden haben mich enorm geprägt, ich war zum ersten Mal „angenommen”. Aber ich spielte kein Instrument, konnte keine Noten, und zur Bildenden Kunst ist mein Verhältnis, mit Ausnahme Vostells, sehr lange Zeit ein kühles gewesen; wirklich daheim bin ich in ihr bis heute nicht. Statt dessen hatte ich zu schreiben begonnen, übrigens schon früh damit, Figuren aus der Musik nachzustellen; ich kopierte, kann man sagen, kopierte aber in ein andere Medium: nämlich in die Literatur. Damit fing ich mit vierzehn an. Entwickelte eine Traumvorstellung über das, was Dichter seien, ja sogar: eine Gemeinschaft von Dichtern. Nichts davon hat sich eingelöst.
Nein, mich abzugrenzen gegen solche, die sich für „etwas Besseres” halten, war meine Sache nie; ich kam gar nicht auf den Gedanken, es könne solche „Besseren” g e b e n. Ich dachte ganz umgekehrt: in den Künsten sind alle gleich. Daß sie im Pop nicht alle gleich sind, hatte ich am Leib erfahren. Von hier war der Weg zu Adorno nicht weit, dessentwegen ich nach dem Abendgymnasium nach Frankfurtmain ging, weil ich dachte, es sei von ihm noch etwas übrige. Auch das war ein Irrtum. Es gab nur noch ausgehöhlte Reflexivpronomina, die man chic nachstellt.
Soviel erstmal dazu. Ich möchte Ihnen einfach nur erzählen, daß ich keine Vorurteile hatte gegenüber populärer Musik, sondern Erfahrungen mit ihr machte, die mich bis heute einen wenn auch sehr biographisch begründeten Abstand nehmen und Massenphänomene insgesamt meiden lassen. Es hat lange gedauert, bis ich wenigstens die Angst vor ihnen verlor, fast, bis ich 48 war. Seither finde ich sie immerhin interessant.

30.3.
Skrjabin, Dritte Klaviersonate.
Aber vielleicht mal wieder zurück an die Seen, Melusine, zurück aus den hohen Lüften, deren Atmosphäre dann doch sehr kühl, sehr dünn ist, zur Erde. Lange Zeit las ich das Wort „Mulch” nicht mehr, das seltsam der Milch gleich, doch dunkler, wie eingefärbt nahrhaft dem, was u n s nährt: Kreislauf. Es blühe schon bei Ihnen, was Sie im Herbst gesät, las ich heute ebenfalls und sehe Sie in Gummistiefeln in der Gülle; ein zweites Ich, das keinen Fischschwanz hat... weshalb Sie mir die Frage gestatten, bitte, wie sich das erste Ich fortpflanzen mag. Undinen, bedeuteten Sie mir, seien Jungfrauen, immer, ausnahmslos, verurteilt, es zu bleiben (auch deshalb geht Andersens Märchen so tragisch aus); wie, Melusine, lösten Melusinen das Problem? Es kommt mir ungefähr so schwierig, nur sehr viel körperlicher vor, als die Frage der demokratischen Ernährung von Kunst. Demokratisch ernährte Kunst m u ß Pop sein, es führt daran, an der Abstimmung mit dem Geld, in einer solchen Gesellschaft nichts herum, das jenseits von Kollegenwirtschaft wäre; daß den Mäzen der Filz ersetzt, ist ein Phänomen der Sozialdemokratie; der Mäzen selber ist eher feudal, quasifeudal: da es s e i n Geld ist, das er gibt, darf er auch frei verfügen. Nicht so bei Geldern der Öffentlichen Hand, die den Handverwaltern mitnichten gehören, auch wenn sie sich anders gebärden.

Devot. Masochistisch. Wer sagte je, dies sei identisch? Zwar, es kommt in Kombination nicht selten vor, aber ist gewiß keine Bedingung. Ich kenne masochistische Frauen, die von Devotheit weit entfernt sind, ja dominant sind. Auch haben Sadisten mit de Sade nur in den allerwenigsten Fällen zu tun; was sie vielleicht vereint, ist ein Hang zur Zwangshandlung, dessen milde, eben auch fangende Spielart das Ritual ist. Zwangshandlungen zeichnet die Wiederholung, stetige Wiederholung, a u s; mir ist bei diesen Menschen nie ganz klar, ob nicht d a s - Ergebung unters Ritual - schließlich selbst devoter Akt ist, da mögen sie hauen, wie sie nur wollen. Uns aber, wenn ich so schreiben darf... - geht es uns nicht um Formen, wie es der Tanz ist, der seine Regeln zwar braucht, aber groß wird, wenn er sie sinnvoll unterläuft? und die auf der Tastatur einer lockenden Genetik spielen? sie bespielen? Denn darum, bei aller instrumentalen Abwehr, geht es letzten Endes doch immer. Da braucht es so wenig ein Neues, wie Liebe neu definiert werden muß, die immergleiche bis in die Seufzer, und jede, dennoch, ist neu erlebt – selbst von denen, die sie schon zwanzigmal erlebten. Das nutzt sich nicht ab, so wenig, wie die Lippen vom Küssen weniger werden.

Ob Sie mir wohl Ihre Ufer zeigten, käme ich für einen Tag an den See? sie entlang der Dünung schwimmend, ich wandelnd über die Ufer? Es wär ja doch keine Gefahr; noch ist das Wasser für Menschen zu kalt.

Ihr
ANH 


Sie setzte sich aufs Fahrrad und radelte den Main entlang in diesen Tagen. Da wurden auch einige Tränen vergossen, von denen nur einer weiß und die nur einer sah. Man kann nicht aufhören zu lieben, wenn man einmal geliebt hat. Wer sein Herz verliert, hat keines mehr zu vergeben. Was die Wahrheit gewesen, war auch: Sie hatte nichts vorzuzeigen. Das tat ihr weh und reinigte zugleich. Sie begriff vielleicht, wozu sie ihn benutzt hatte. Sie war klug gewesen und hatte alle Ratschläge befolgt, ohne sie zu verstehen. Sie hatte angefangen sich zu verpuppen. Aber ein Schmetterling würde sie nicht mehr werden.


Sie schrieb am 2. April über den Briefwechsel, der kein Roman werden sollte:

Lieber Herr Herbst,

als ich las, dass und wie „meine“ (denn meine sind sie ja schon nicht mehr, sobald ich sie hier einstelle) Briefe in Ihr Romanprojekt eingehen sollen, da fragte ich mich, wie und ob ich überhaupt Ihnen weiterschreiben könne, wissend, dass die Figur, die i c h erfand, m e i n e Melusine zum Teil werden sollte einer ganz anderen Melusine, nämlich der Ihren. Das ist nicht ohne Ironie, wenn man bedenkt, wie „unser Briefroman“ begann. Erinnern Sie sich? Es ging darum, dass man schreibend diejenigen „verrät“ (Sie mochten mit guten Gründen das Wort nicht), die man in die Schrift bannt (und damit ja auch „verbannt“ aus einer anderen Welt, nämlich aus jeder anderen möglichen als dieser einen bestimmten, beschriebenen, dann fest geschriebenen, - früher - schließlich gedruckten.) Schließlich aber habe ich mir gesagt, dass mir das ganz einerlei ist, w i e Sie mit d i e s e r Melusine und deren Briefe umgehen. Denn umgekehrt gilt ja auch, dass m e i n e Melusine, als die i c h schreibe, auch ohne S i e besteht (aber durch Sie gewinnt).

Der (Brief-)Roman, den w i r (das darf ich doch schreiben?) hier begonnen haben, ist ja von der Form her ganz altmodisch und folgt anderen Regeln als jenes Projekt, das Sie sich entwarfen. Er (also „unser“ Roman) ist an einem Wendepunkt angelangt. Würde ich an dieser Stelle nun, nur als Beispiel, die Nennung Brechts in meinem letzten Brief verteidigen oder die „Pop-Musik“ (was ja so pauschal benannt schon völliger Unfug ist), wozu ich nicht übel Lust hätte, so drehten wir uns bloß im K r e i s e. Wir können auf diese abstrakten Fragen (über Kunsttheorie) da heroben in der dünnen Luft sinnvoll und vielleicht mit neuen Einsichten erst wieder zurückkommen, wenn wir die anstehenden „unseres“ konkreten Romans, ich will nicht sagen gelöst, aber doch „angegangen“ haben (das klingt recht aggressiv, ist aber, wie ich finde, angemessen).

Es ist dies die Stelle im Roman, an der Held und Heldin (wie ich uns jetzt mal ironisch nenne) zurückschauen, sich wechselseitig erklären, wie sie hingelangt sind an diesen Punkt, also s i c h dem anderen interpretieren. (Im „richtigen“ Leben ist das gar nicht viel anders: Man lernt sich kennen, man spricht über „dieses und jenes“, man nimmt Interesse, dann fängt man an, sich zu erklären: wie ich wurde, die/der ich bin.- Sie selbst, in Ihrem letzten Brief, unternehmen dies für Ihre Haltung zu dem, was Sie Pop nennen.)

Also: es wird noch einmal geklärt, „was bisher geschah.“

Ich kann das nur aus m e i n e r, also hier: Melusines, Perspektive tun, die Ihre müssten Sie hinzufügen, andererseits liegt sie ja, gewissermaßen in Die Dschungel schon vor. Ja, wie kam es, dass „eine Melusine“ auftauchte in Ihrem Wald? Tatsächlich, ich weiß es nicht mehr. Ich „googelte“ irgendwas, da erschien Ihre Seite, Ihr Name (den ich kannte, wie einige Ihrer Bücher) erinnerte mich an was, ich las mich fest. Schon vorher aber war ich (oder hatte ich?) M e l u s i n e, das Haus am See, die Schwester, die Mark. Von Ihrer Melusine hatte ich nie gehört oder gelesen. Und las auch damals nichts dazu. Ich ging ja planlos vor. Die Frage aber, die da aufgeworfen wurde, wie Leben sich in Geschriebenes verwandelt und was das aus den Lebenden macht (denen die schreiben und denen die beschrieben werden), die fing mich. Und ich schrieb Ihnen dazu. Als Melusine. Weil Kyritz in Brandenburg liegt. Zu meiner Überraschung antworteten Sie. (Ich „kannte“ Sie ja da noch nicht.) Und missverstanden mich. Das wollte ich klären.

Ich glaube, damit hätte das ganz leicht enden können. Doch ich fügte was hinzu. Weil ich gelesen hatte, mit welchem Vergnügen Sie sich einer jungen Arzthelferin präsentierten. Das fand ich schön, weil es mich länger schon beschäftigte, wieviele Männer (zumindest „unserer“ Generation) kein Interesse nehmen an ihrer eigenen Erscheinung. Und Sie schrieben, ich finde das jetzt nicht mehr wörtlich, also ungefähr sinngemäß, die Lebenswelt jener Arzthelferin und die Ihre seien einander so fremd, dass sich hier weiter nichts ergeben werde. Da dachte ich mir, das gelte für mich ganz ebenso und drum könnte ich, ganz unbefangen, Ihnen diesen Zusatz schreiben. So brachte ich, a h n u n g s l o s, ein „Thema“ in unsere Korrespondenz, das seither immer mitschwingt und von dem sich, von dem wir herausgestellt haben, dass es ganz eng mit jenem anderen (wie Kunst entsteht) verknüpft ist: die Sexualität.

So verschränkte sich, was wir einander schrieben, mit dem, worum in Ihrem Dschungel alle und alles kreist. Gewissermaßen. Und – gerieten wir uns als Figur u n d Person in den Blick (metaphorisch).Trennschärfe war da nicht immer herzustellen und auch nicht gewünscht. Wer wir also sind – bis hierher - , das ist seltsam verworren: Denn Melusinen sind eine Art und ich bin - jemand.

Sie schreiben mir, um sich zu erklären (so lese ich das einfach mal), wie Sie „Ihre“ Musik entdeckten und was Sie Ihnen bedeutete, dem verletzten Kind, das Sie waren, dem Mann, der Sie wurden: „In diese Musik grub ich mich ein, sie schützte mich, sie war eine Höhle vor der, kindlich gesprochen, bösen Welt.“ Ich habe Sie verstanden und ich weiß auch, dass jede/r, der/die sich selbst entwirft, dies aus Einsamkeit heraus tut. Es liegt darin verborgen (im Selbstentwurf) immer ein Schmerz. Aber ich habe auch erfahren, dass die anderen, diejenigen, die aufgehen oder sich einfügen in die Form, die schon da ist (die „Gruppenmenschen“ also), dass die – wie vielleicht auch jene Kinder, die Sie schlugen – auf oft höchst traurige Weise ihren Lebenshöhepunkt eben dann haben (als „mobbende“ Kinder oder Jugendliche). Da kommt dann kaum mehr was nach. Das war´s. Von daher gibt´s keinen Grund, ihnen ihre Selbstverständlichkeit zu neiden. Aber ich weiß, dass Sie dies ohnehin nicht tun.

Wohin ich eigentlich will: mich erklären. Ich war ein sehr behütetes und geliebtes Kind. Die beiden Menschen, die uns (meine Geschwister und mich) gezeugt haben, haben dies zu ihrem Lebensinhalt gemacht: uns Spielräume zu schaffen (größere als sie selbst sie hatten) und eine Haltung zu geben (heute nennt man das „Grenzen setzen“, aber ich finde Haltung passender). Ich habe das nutzen können und bin sehr dankbar dafür. Die Einsamkeit, die zum Selbstentwurf nötigt, die habe ich erst erfahren in der Konfrontation mit „höherer Bildung“

„Nein, mich abzugrenzen gegen solche, die sich für „etwas Besseres” halten, war meine Sache nie; ich kam gar nicht auf den Gedanken, es könne solche „Besseren” g e b e n.“, schreiben Sie. Da liegt der ganze Unterschied. Als ich mit 16 Jahren aufs Gymnasium kam, schienen mir alle „was Besseres“, so fremd, so selbstverständlich, so selbstgewiss und sicher wirkten „die“. Und ich wusste gar nichts. Kannte nichts. Hatte von nichts etwas gehört. Wusste nicht mal, wie man richtig i s s t. Erst wollte ich sein wie „die“. Aber ich begriff sehr schnell, dass dies unmöglich ist. Und auch, dass ich es gar nicht wollte. Weil viele von ihnen, wie ich bemerkte, eben das nicht hatten: eine Haltung. Eine Idee davon, was m a n einfach nicht tut oder unbedingt tut, nicht um den Schein zu wahren, sondern vor sich selbst zu bestehen. Das ist mein Vater (und auf andere Weise meine Mutter auch).

Ich wollte Ihnen immer über ihn, den Vater, schreiben, erinnern Sie sich? Aber ich wusste nicht, wie. Ich weiß es immer noch nicht. Nur soviel: Immer wenn ich sehr einsam bin, ist er da. Er kennt mich. Und braucht deshalb nichts zu wissen. In seiner Armbeuge bin ich – noch immer – DAHEIM.

Ich schreibe Ihnen das, damit Sie verstehen – und nicht missverstehen -, dass ich, dass Melusine, diese Melusine, keine Frau ist, die das Trauma eines ungeliebten Kindes aufarbeiten muss. Viel eher ist sie eine, die sich sehnt, nach jener U n m i t t e l b a r k e i t, die sich in der Liebe des Vaters aussprach (ganz asexuell). Die sie aber sucht auch im Begehren. Keine Regeln. Überwältigung. Ja, nichts „Neues“, aber: aus der Zeit fallen, sich frei geben.

„Ob Sie mir wohl Ihre Ufer zeigten, käme ich für einen Tag an den See? sie entlang der Dünung schwimmend, ich wandelnd über die Ufer? Es wär ja doch keine Gefahr; noch ist das Wasser für Menschen zu kalt.“

Das ist nicht wahr, nicht wahr?

Ihre Melusine 

Am 4. April kam die Antwort:


Liebe Melusine,
selbstverständlich n i c h t. Aber der Satz ist milde. Er ist gütig. Nicht etwa, weil er uns Wirklichkeit&Wahrheit besser ertragen ließe, denn um so etwas kann es und darf es nicht gehen. Wirklichkeit zu ertragen behauptet ja doch immer, daß sie zu ertragen nicht s e i. Vielmehr, um den Gefahren einen Duft von Sanftheit zu geben, Gelassenheit (wie schwer sie mir nach wie vor fällt!), ohne daß wir doch stets eine Harmonie fantasierten, die zu impotent ist, um neues, weiteres Leben zu schaffen: So ahnen Sie bereits, welcher „Gefahr” mein Satz das Mäntelchen umhing, das früher „ohn’ Harm” genannt worden wäre und wovon das Wort „harmlos” nur noch ein letzter Ausfluß ist. Selbstverständlich i s t „Gefahr”, wollten wir denn, was Leben antreibt und fortsetzt, so nennen. Die Lust - ein Wille, der nicht aus mir rührt, aber drin i s t - ist groß, das weiterzugeben und -leben zu lassen, was Kraft und Begeisterung hat. Allein, die „Gefahr” ist noch eine andere, die ebenfalls nicht aus u n s stammt, nicht aus der vermeintlichen Autonomie, sondern es sprechen - es sprächen - und, wenn wir ließen, w i r k t e n - Konditionen, die wir verstrahlen, ohne es zu merken. Will sagen: immer entscheidet der erste Blick, was geschieht, was, jedenfalls, geschehen könnte. Sperrten wir’s nicht immerzu zu. Ich selbst sperr schon seit langem nicht mehr. So vieles fiel von mir ab: Vertraue deinem Instinkt: das wurde mir Haltung.

Sie sprechen von Haltung. Ihr Vater gab sie Ihnen mit Liebe. So höre ich, was Sie schreiben. Mein Vater gab sie mir nicht, sondern die Mutter: doch gab sie als Pflicht. Das war immer eckig. Ich habe die Ecken gerundet, wie einer ein Holzstück erst schnitzt, dann schmirgelt und schließlich zum Handschmeichler ölt; es feilte sie, indem ich mich zuließ. Ich hörte, Melusine, und höre. Das ist der Instinkt.

Nein, es ist nicht wahr.
Und eben doch.

Wie sollte ich darauf kommen, Sie hätten ein Trauma aufzu- (in diesem Zusammenhang ein schreckliches Wort) -„arbeiten”? Über das hinaus, was wir alle und jede auf ihre, jeder auf seine Weise „zu arbeiten” haben? Sie beziehen sich auf meine kleine hypothetische Perversionstheorie?Fragte ich denn? Sie ist doch Kunsttheorie vor allem anderen – vergessen Sie nicht, daß in der Theorie sprachlich ein GOtt steckt. Der Vater... sehen Sie? Überwältigung. Ganz asexuell, jedoch „ohne Regeln”.

Ich nehme Sie mir. Sie laufen indes, eben:, Gefahr, n i c h t genommen, wie ich, abgewiesen zu werden. Es liegt nicht an unseren Willen. Ich nehme Sie mir aber bereits als Figur – was keine Abwertung ist, eher im Gegenteil, wenn Sie sich anschauen, >>>> w e l c h e Figur, welch eine Romanfigur das i s t und wird (immer nämlich schon war). Übrigens ist es nicht meine; vielmehr: s i e nahm m i c h.
In der Tat sind wir zu Ihrer Eingangsfrage zurückgekehrt und dem, was Sie „Verrat” genannt haben. Aus meiner Sicht ist es nun ganz besonders keiner. Ein Verrat wäre, gingen wir von unserer Autonomie aus, davon, wir seien einzigartig und Monade. Tatsächlich glaube ich etwas anderes. Wenn Sie in Der Dschungel ein wenig nach dem Kontext der ALLEGORIE fahndeten, fänden Sie, was ich meine, schnell. Ich möchte mich nicht allzu häufig wiederholen, ich wiederholte mich sowieso schon zu oft: in mir, durch mich hindurch, realisiert sich etwas wie in und durch Sie. Selbst, wenn wir uns sperren, realisiert es sich, selbst wenn wir die Wirklichkeit, und mit Erfolg, abwehren würden. Und den möglichen Verlust. Wir täuschen uns: es ist a u c h ein Verlust, doch wenn wir vorsorglich verzichten, ist er’s in jedem Fall.

Also wir werden zu Kunst. >>>> Das Leben als Roman zu begreifen bedingt, daß alle Menschen (und Tiere, und Dinge) Teile des Romanes werden, der ich bin; es gibt da gar kein Entweichen; es ist eine ontologische, geradezu, Antinomie der Interessen: „ontologisch” deshalb, weil ich, wie ich anderswärts schrieb, Roman ganz b i n: nicht denkbar ohne was ich tue. Deshalb ist jeder Kuß, ist jede Ohrfeige, ist jeder Blick in Gefahr (wir bleiben, ja bleiben bei den Gefahren), in die Struktur des Romanes einzufließen, auch jeder Beischlaf selbstverständlich: man muß nur verstehen, daß ihn das nicht erniedrigt. Es erhöht ihn auch nicht, er ist die Rose die Rose die Rose, aber etwas in ihm, etwas aus ihm, wird verwandelt. Verrat ist da keiner, selbst dann nicht, beschriebe ich, wie es an unserer Uferstelle gewesen sein wird, sofern eine wärmende Sonne war, Ihnen nicht nur die Brüste zu entblößen: die der klugen Menschenfrau, nicht der Melusine, deren ohnedies bloß sind. Ich folge ja nur; es sind immer die Frauen selber, und weisen den Männern den Weg: „Ich entblöße mich nie, allenfalls l a s s e ich mich entkleiden”, schrieben Sie und wußten genau, ich ließe diesen Handschuh nicht liegen. Abermals, ja, die Gefahr: Was, wenn er sich n i c h t bückt? Wenn er ihn n i c h t nimmt? Welch eine Verletzung! Was aber, sagten Sie m i r: „Ich hab mich in Ihnen getäuscht, der Handschuh war vergeudet”? Und stoßen ihn weg mit dem Fuß in den Dreck.
Interessanter als sie, als diese Gefahr, ist jedoch, daß der Roman, der ich bin, den ich schreibe, in b e i d e Richtungen läuft: so, wie das reale Leben ihm zum Reflex wird, wird es auch er für es. Das ist vielleicht sogar die Grundbewegung, die ich an anderer Stelle Realitätskraft der Fiktionen nenne; vielleicht täuscht ein imperatives „Das Leben als einen Roman betrachten” darüber nur hinweg. Ich bin mir selbst noch nicht einig, beobachte und spüre nach...: lebe. Reizvoll ist, höchst reizvoll, daß ich dabei beobachtet werde: wir werden beobachtet. Wir haben Leser, die sich angeregt und ärgerlich und irritiert fragen: wird er sie öffnen? sie sich öffnen lassen? ist dies alles real? Und werden es, was immer wir erzählen, nie wissen. Aber wissen, w a s sich öffnet, wenn es sich öffnet.

Wir haben einen Briefroman begonnen, damit haben Sie recht, wir haben ihn traditionell, ja ein bißchen altbacken begonnen, und sehr bewußt so; ich mag die kleinen Zopfigkeiten, die Frauen in den Mantel helfen und ihnen voran in die Restaurants treten, aus denen heraus man ihnen die Tür aufhält, um den Vortritt zu lassen; ich mag den Handkuß, der „wahr” ist, sofern er nicht berührt, stehe immer noch gerne am Tisch auf, wenn eine Frau kommt, um sich zu setzen, setz mich erst wieder n a c h ihr... bin, wenn’s ums Geschlecht geht, der Allerunmodernste, der allermodernst ist, wenn es um Kunst geht, und allermodernst bei der Verführung durch Sprache. Indem ich weiß, daß wir Kinder n o c h sekretisch zeugen und mit dem Aufschrein. Das ändert sich, aber ich mag da nicht mittun. Die Pipette hat zwar die Zukunft, die aber wird replikant sein. Deshalb, weil ich dem widerstehe, erscheinen mir die Wasserfraun. Das ist mir die aristokratischste Ehre. S e h r jung kann mein Adel deshalb nicht sein.

Heute begehen wir Menschen ein Fruchtbarkeitsfest. Das fühlen die wenigsten noch. Es ist Zeit, daran zu erinnern, daß auch Auferstehung letzten Endes nichts anderes meint. Kein Hitler soll mir das kaputtgemacht haben können: Es gab keinen Endsieg, weder der Barbaren noch der Abstrakten: keinen des Wortes über die Körper. Seltsam, daß uns der VaterInUns, sofern er Vater w a r, immer dann antwortet, wenn es die Zeit ist. Mütter dagegen: sie werfen und töten hormonisch.

Ihr

ANH


Über Ostern zelebrierte der Dichter heidnische Bräuche; ihr wurde klar, wie sehr sie die Gnade Jesu Christi jetzt brauchte und auch was sie an ihm, jenseits der Gabe, durch Sprache zu betören, schätzte: dass er ein Vater war und sein wollte. (Das bestätigte sich, viele Monate später, als sie ihn mit seinem Sohn sah. Wohin er gehört, das ist so entschieden und anders als ihrs.)

Und es kam zum Streit, darüber, worüber es am Ende immer zum Streit kommen muss, am Urgund: die Mütter.

Mütter
Lieber ANH,

Ihr letzter Satz, der tut mir so weh, der ist so verletzend, dass ich
d a r a u f gleich antworten muss.

Wenn "es an der Zeit ist" werden mein Sohn und ich uns anschauen, er wird mich an der Schulter oder der Hand berühren, ganz leicht, wir werden uns verstehen und - er wird gehen. Es gibt auch Mütter, die ihren Söhnen ein DAHEIM sind - und bleiben - auch wenn sie gehen. Und die sie zum Gehen ermuntern.

Ihre
Melusine 


Mütter
Sie kündigten an, sich hierüber noch zu erklären, taten´s aber nicht (außer im Arbeitsjournal, wo Sie es noch auf die Spitze trieben, indem Sie den "hormonischen Müttern" den väterlichen Geist entgegen setzten). Mich treibt das um.

Da Ostern der Ausgangspunkt war, sollte man nie vergessen: ohne Karfreitag kein Ostern. Am Kreuze aber hing ER und schrie: Warum hast du mich verlassen, mein Vater? Und DER verdüsterte mit Wolken den Himmel, um den gefolterten Sohn n i c h t zu sehen. Die Mutter aber stand und schaute. So zumindest stelle ich mir sie vor. Keine, die die Augen niederschlägt und in ihr Tuch weint. Nein, in der Stunde seiner Not blickt sie ihren Sohn an. Ist DA. Nicht weil die Hormone es gebieten, sondern weil sie es w i l l - und
m u s s. 


@MelusineB zu den Müttern.
Verzeihen Sie, ich wähnte Sie nicht am Ort, sondern in den Seen und Wäldern unterwegs; deshalb schwieg ich noch.
Sie haben, die Pietà im Herzen, selbstverständlich recht. Aber auch i h r e Brüste werden getropft haben, wenn nebenan der Säugling schrie, und zwar beide, so daß unter eine, indes die andere stillte, ein Schälchen gestellt werden mußte, wie >>>> Thetis das erzählt. Worauf ich hinauswill: Wenn Väter sich eine neue Frau nehmen und mit ihr nächste Kinder zeugen, beißen sie die vorigen tot; dieser Aspekt shakespearscher Königsdramen hält sich durch bis heute: Väter nehmen Abstand von den vorigen Kindern. Es sei denn, sie entscheiden anders: in einem Akt ihres Selbstbewußtseins und -willens. Mütter nicht, Mütters Kinder sind die Kinder immer. Sie sagen es sogar von Maria: weil sie m u ß. Väter müssen n i e. 


@albannikolaiherbst "Mütter und Väter"
Ich bin da altmodisch: Ein Vater, wenn er ein Vater i s t, verlässt die Mutter seiner Kinder n i c h t. Und eine Mutter bleibt bei dem Vater ihrer Kinder. Ich weiß, man sieht das heute anders. (Finanzielle) Zwänge sind aufgehoben. Man muss es tun, weil man es w i l l. Als Entscheidung. Das können auch Frauen. )


@MelusineB.
"könnten", Irrealis. Ich bin ebenso altmodisch wie Sie, doch wir entscheiden nicht allein. Und was, wenn eine Frau von verschiedenen Männern Kinder hat, was, wenn ein Mann von verschiedenen Frauen Kinder hat? Wir sind Menschen, nicht Moralmaschinen, zu denen "man" uns freilich gern machte. 

@Menschlichkeit
Grad so menschlich bin ich nicht, bin´s nie gewesen. Und darum, auch darum, ließ ich mich auf den Briefwechsel mit Ihnen ein. Weil die "Moralmaschine" auch einmal menschlich sein wollte. 

@MelusineB. zur Menschlichkeit.
Einen Schritt weiter, nur einen kleinen, und wir sind im See. Ich verstehe das vollkommen. 


Liebe Melusine, ich hatte einen Traum, der Fröschinnen küßte....
- keine Königinnen, nein, sondern Schwäne imgrunde, die sich als solche getarnt hatten: zu gut wissen sie, daß niemand Schwäne verzehrt; wären sie einem mit Flanken von Rehen erschienen, man hätte sie geschossen. Doch wiederum, die menschliche Seele ist heikel und die von Rehen auch: so sehr sie lebenbleiben wollen, nehmen sie’s doch dem Jäger übel, wenn er nicht anlegt, Diana beim Baden nicht zusieht, sondern eben nur Frösche sieht. Zwar sie verbat, daß man sie schaute; schaut einer aber nicht, wird er erst recht Actaeon: sie jagt dann ihn.
Das braucht in unseren zivilisierten Zeiten weder Pfeil noch Bogen, das braucht allein die Lockung. Also, träumte mir, die Schwänin, die diese Aura von Fröschen um sich gelegt, lege ihr Gefieder vor mir ab. Das hat nicht sie entkleidet, sondern mich. Ich bin’s nun, der quakt. Aber an Land; seinerseits verkleidet, weiß er nur zu genau: steig ich ins Wasser, ertränkt sie mich. Es fällt ihr nicht schwer, von Schwan auf Reiher zu wechseln. Sie ist ein weiblicher >>>> Odo des Wassers aus seiner größten Verbindung. Nervös lief ich am Ufer hin und her, irrte die Blicke über den z u glatten Spiegel. Ich zitterte. Ich wußte, Sie würden sich rächen, unerbittlich, wie nur Frauen sind, hat man ihre Ehre als Frauen verletzt, die aus dem Willen... nein: der Forderung, begehrt zu sein, völlig gemacht ist. Ich denke an Hera, denke an Pallas Athene: K r i e g e werden um Schönheit geführt (heißt es; die Wahrheit war: es ging um das Land; auch das wieder weiblich als erblich). Jedenfalls durfte ich nicht mal ans Wasser zu nah heran; es hatte nie ein „Ja” gegeben, vergessen Sie das nicht, Sie ließen mich verdorren. Im Traum. Im Traum aber fuhr ich hin. Dennoch. Aus Trotz. Aus Überhebung. Ich zog mir den Wolf über. Der Pelz paßte genau, ich konnte sogar die Lefzen schürzen, wenn mich Passanten sahen. Denn die gab es: Ausflügler, lose Jugendliche, schäkernd. Sie alle wichen zurück. Der See aber blieb. Er sah m i c h an, nicht umgekehrt. Solange ich Wolf war, würden Sie sich nicht zeigen. So wagte ich’s und ward verwundbar Mann. Sie zeigten sich dennoch nicht. Keine Regung, kein Kräuseln, nicht einmal ein Fisch sprang. Es war Hochsommer in meinem Traum, die Blätter erzeugten Weißes Rauschen, durch das bisweilen Insekten brummten. So spring doch! dachte ich. Spring hinein und tauche! Ich traute mich nicht, versagte. Ich dachte, du mußt nackt sein, völlig nackt. Wir sprachen, aber daran erinnere ich mich erst jetzt, da ich dies schreibe: - dachte daran, daß wir über Männerkörper sprachen. Allezeit war mir klar, es gehe um ein Opfer. Der Frühlingskönig: sowas. Obwohl Sommer war. Sehr wahrscheinlich hat mein Traum ihn mit Ostern verschränkt, auch darüber haben wir gesprochen: sie sprachen christlich, ich heidnisch. Doch ohne Ansehen.
Es wurde Abend, Sie hatten sich noch immer nicht gezeigt. Es wurde Nacht. Ganz andere Frauen stiegen aus den Bäumen und wehten zum See, sie hatten die Stimmen von Lerchen, woraus ich erschloß, daß bereits wieder Morgen sei. Durch die Dämmerung, die sich in vorsichtig toscanischem Laurot aus dem See hob, klingelte mein Wecker, und ich erwachte.

Davon wollte ich Ihnen erzählen und habe ich Ihnen jetzt erzählt.Ich erwachte ohne Erektion, was das ganze Ausmaß meiner Niederlage umreißt: Ich habe den Apfel zu besingen, das fordern Sie. In ihn hineinzubeißen, aber, versagen Sie mir.

ANH


Sie schrieb – noch von der Radtour (Bamberg bis Hanau)- am 8. April 2010, denn das Wort lag ihr schwer wie Blei auf der Seele:

"Moralmaschinen" - Pflichten und Liebe
Lieber ANH,

Sie wissen, ich bin unterwegs; ich kann Ihnen auf Ihren Traum jetzt nicht antworten. Aber ich werde es tun. Vielleicht werde ich Ihnen auch einen Traum erzählen. (Bitte glauben Sie mir, so was wie Rache - das ist unter meinem Niveau - und es gibt auch keinen Anlass dazu. Was Irrtum war, war allein meiner.)

Aber was anderes lässt mir den ganzen Tag keine Ruhe, was ich geschrieben habe. Ich habe mich auf dieses böse Wort eingelassen: "Moralmaschine", aber das ist nicht wahr. Ich führe kein Maschinenleben. Es gibt keine andere Motivation, die Pflicht zu erfüllen als die Liebe. Es ist "The boring book of love". Alt, viel älter als wir. Es wiederholt sich. Es ermüdet. Aber es bleibt doch die L I E B E. 



Es gab einen Austausch kurzer Nachrichten, der peinlich und peinsam war, weil er Missverständnisse offenbarte und eine Kleinheit, ihre Kleinheit, die dem „Leben als Roman“ eben nicht gewachsen war. Sie hatte gedacht, er wolle sie nicht kennen, nachdem er sie erkannt hatte und tatsächlich war es so gewesen, dass er sie gar nicht kannte, aber – und das blieb – anerkannte.

Dann antwortete sie auf die Traumerzählung und so endete der Briefwechsel:



Lieber Alban Nikolai Herbst,

meine Antwort auf Ihre Erzählung eines Traumes wird deren einfache und schöne Form, das „Hammermäßige“ und  die Weisheit, die eine Leserin darin erkannte, nicht erreichen. Ich dachte, ich könnte Ihnen mit einer Traumerzählung antworten. Aber die, die ich zu erzählen habe, reicht nicht, zu sagen, was ich Ihnen sagen möchte. .

Ich schreibe, weil ich es versprach, obwohl Sie mir sagten, das, was uns trenne, sei irreversibel. Dass ich die Bedeutung, die Sie dem beimessen, nicht ganz verstehe, ist Teil des Problems. Inzwischen habe ich einsehen müssen, dass mein unbedachter Umgang mit Worten in Ihrem Blog, denen Futter gibt, die Sie „schlachten“ wollen (um in deren Metaphorik zu bleiben). Es ist von Anfang an ein Ungleichgewicht gewesen, zu Ihren Lasten: dass Sie mit Ihrem Namen einstehen, für das, was Sie schreiben, ich aber nicht. So schrieben Sie mir auch und ich habe das wohl verstanden: Ihr ANH, „der das Licht liebt“.  Wie öfter schon, zwingt mich die Korrespondenz mit Ihnen auch hier, genau auf mich zu sehen.  Ich trage den Namen eines Anderen. Und ich fühle mich verpflichtet, in seinem Namen nichts zu tun, wofür er nicht gerade zu stehen wünschte. Es geht hier nicht in einem banalen Sinne um eine Form von „Betrug“ in der bürgerlichen Ehe. Er könnte, wenn er wollte (er will es nicht) alles lesen, was ich Ihnen schreibe. Ich habe, ganz am Anfang unserer Korrespondenz, vielleicht erinnern Sie sich, versucht dies zu beschreiben: Wenn jemand entschieden ist, etwas nicht zu wissen, dann wird es „Verrat“, ihn - öffentlich  - damit zu konfrontieren.  Schon während ich dies schreibe, spüre ich, wie heikel diese ganze Konstruktion ist, wieviel Sie (und jeder) dagegen einwenden könnten.  Es war ja gerade die Übertretung (von Tabus?) über die wir uneinig wurden. Sehen Sie, ich finde, es ist heutzutage eben auch fast ein Tabu, wenn jemand sich gegen den Terror der Intimität verwahrt. Dem bringe ich Achtung entgegen, auch wenn es mich zwingt, Grenzen einzuhalten, die nicht meine Grenzen wären.

Die Bilder Ihres Traumes, die berühren mich sehr, aber ich erkenne darin Melusine, nicht mich. Sie versuchten mir zu zeigen (so verstand ich Ihr „Locken“), dass und wie Fiktionen wahr werden können. Diana aber, wenn sie Diana ist, müsste den Blick erheben, statt schamhaft zu Boden zu schauen; die Göttinen rächen sich, wenn einer ihnen zu nahe kommt oder auch nicht nahe genug sich wagt.  Ich schrieb Ihnen – trotzig – Rache sei unter meinem Niveau; in Wahrheit aber bin ich zur Rache gar nicht fähig,.

Sie schrieben: „Sie jagt dann ihn.“ Tat ich das? Ich lese, was ich schrieb und ich erkenne, was Sie meinen. Aber es waren die Worte, die mich trieben, Ihre Worte. Dass Sie schreiben können, ließ mich so antworten. Sie waren (und sind) für mich ein Autor, den ich schätze, vor allem „MEERE“, das schrieb ich Ihnen schon einmal, wurde mir wichtig. Dabei habe ich mich nie – vor unserer Korrespondenz – mit der realen Person hinter dem „Autor“ befasst. Ich wusste über Ihre Biographie nichts. Es hat mich auch nicht interessiert. Ich hatte vorher noch nie in einem Blog irgendwas kommentiert. Und ich rechnete nicht mal mit einer Antwort von Ihnen. Auch verkehre ich nicht in Kontaktbörsen-Chats (wie Sie offenbar – inzwischen habe ich mich ja durch Ihren Dschungel geschlagen). Mir fehlt jede Erfahrung (auch hier).  Was also  für Sie Wiederholung, Routine, Regelspiel ist, für mich war es vollkommen neu. Was immer ich tat, es geschah nicht geplant. Ich hatte kein Ziel. Ich wollte Sie niemals „erlegen“. Weil es keine Koketterie war, als ich schrieb, dass ich nicht jage. Es ist einfach so.

Deshalb verstand ich Sie auch nicht immer richtig. Ich hörte den Autor. Den Mann sah ich nicht. Auch als ich Sie sah, sah ich ihn nicht. Ich hörte. Es war mir daher ganz recht, als Sie schrieben, es sei nicht gut, ein „echtes Bett dahinein zu wuchten“.  Ich hatte gar keine andere Erwartung. Was ich erst langsam begriff: Sie weigern sich, diese Unterscheidung zu treffen. Sie meinen das ernst: Ihr Leben als Roman zu leben. (Ganz wahr kann es aber nicht sein , denn ich hoffe, den Mann der Ponce ließen Sie leben.) Und Sie schafften es tatsächlich mit Ihren Worten, dass  die Frau, die nicht Melusine heißt, sich gemeint fühlte. Ganz körperlich fühlte die Ihre Worte, besonders die linke Seite wurde immer empfindlicher.

Einmal träumte sie sogar von Ihnen. Sie hatten sie mitgenommen in die Oper. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid aus roher Seide, das die Arme freiließ. So saß sie vor Ihnen, ganz aufrecht hielt sie sich und wendete nicht einmal  leicht den Kopf nach links hinten, wo sie Sie spürte. Den ganzen Körper empfand sie wie taub, weil alle Empfindung sich auf die Hautoberfläche ihres linken Oberarms konzentrierte. Aber Sie berührten sie nicht.

Es stimmt, ich sagte nie „Ja.“ Auch deshalb, weil ich meine Versprechen halte.  Ich will keine geben, von denen ich nicht weiß, ob ich sie halten kann, ob ich nicht auf halbem Weg wieder umkehrte.

Lieber ANH,  „Meere“ wird mir immer eins der liebsten Bücher bleiben. Noch mehr aber liebe ich inzwischen Ihre Bamberger Elegien. Und ich freute mich sehr, wenn die gedruckt werden.

Ihre Melusine






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