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20131128

DER BETROGENE MANN ("Making love, making waves, not making sense")

Neuglobsow am Stechlinsee, 29. Juli 2009, 18.34 Uhr (MEZ)

Der See erholte sich, langsam, kaum merklich. Die Armleuchteralgen kehrten zurück. Jene Vielfalt der Arten, die den See ausgezeichneten hatten, als sich der alte Fontane den Weg mit Fackeln vom Ufer durch den Wald ausleuchten ließ, konnte zwar nicht vollständig wiederhergestellt. Immerhin aber war neues Gleichgewicht erreicht worden, in dem zumindest die Fontane-Moräne überleben würde. Bert stellte die letzten Proben ordentlich markiert zurück an ihren Platz. Er dokumentierte den Phosphor-Gehalt wie jeden Tag in der Liste, klappte die Kladde zu und schob sie ins Regal. Dass er Zeit zu schinden versuchte, war ihm klar, aber er wollte sich keine Rechenschaft über sein Verhalten ablegen. Er wusste, wie wenig willkommen er auch heute Abend der Frau sein würde, die im Haus am See  auf ihn warten sollte.

Er wünschte, er hätte den Mut, Anne zur Rede zu stellen. Aber ihm fehlte schon die Kraft, sich seinen eigenen Zorn einzugestehen. Er dimmte ihn stattdessen herab auf eine erträgliche Temperatur, lenkte sich ab, verdünnte das Unglück mit Geschäftigkeit, mit Gartenarbeit und Autowaschen, mit Rudern auf dem See und unter dicken Kopfhörern. Er wusste nicht, was schief gegangen war. Sie hatte sich von ihm entfernt, glaubte er, mit dem Umzug an den See. Dass ihr Erkalten lange vorher begonnen hatte, gerade so langsam voran geschritten war wie die Erwärmung des Sees durch das Atomkraftwerk, die er untersuchte, verbarg er sich. Er ahnte bloß dunkel, wie das Wiederauftauchen der Kreatur, an die er nicht glaubte und deren Gesang er doch ständig zu hören meinte, des See-Weibs, das sie in sich trug, mit dieser Erwärmung, dieser Vernichtung der natürlichen Lebensbedingungen, im Zusammenhang stand. Immer öfter erinnerte er sich in den letzen Monaten schaudernd an die wenigen Male, die sie ihm erlaubt hatte, ihre Mutter zu sehen. Diese grausig entstellte Frau, von der sie behauptete, sie sei schön gewesen und stark, deren Wahnsinn und Verwahrlosung ihn mehr erschreckt hatten, als er zugeben mochte. War das doch erblich? Er wusste, dass dieser Gedanke allein einen Verrat bedeutete, der nicht zu verzeihen war. Denn obwohl er Anne kaum verstand, war ihm doch klar, welche Rolle sie ihm zugewiesen hatte von Anfang an: Aus dieser Tiefe hatte er sie empor geholt, gelöst aus der Umschlingung dieser wilden Frau und zivilisiert. Sie hatte eine Chance gesehen in ihm, die einzige, und er hatte sie vertan, wusste aber nicht wie und warum. Er suchte nach Begründungen,  wollte aber nicht auf den Grund hinabtauchen. Die Struktur seines Denkens in Ursachen und Wirkungen konnte und mochte er nicht aufgeben. Seine Liebe zu Anne war beständig und klar. Was er versprochen hatte, hielt er, wie immer schwer es zwischenzeitlich geworden sein mochte. Er konnte sich keiner Schuld bewusst werden und fühlte doch, dass sie ihm stumm etwas vorwarf.

Bert schaltete die Alarmanlage ein, verschloss die Eingangstür und trat hinaus auf das umzäunte Gelände. Es war schon längst Feierabend, die Kollegen gegangen, still und aufgeräumt lag die Station im Wald. Er lauschte; fürchtete und hoffte den sonderbaren Gesang wiederzuhören, der ihm die Ruhe raubte, der kaum vernehmbar vom See herüber scholl, so verlockend und schauerlich, ihm den Abschied verkündend, den er nicht wahrhaben wollte, den er zu vermeiden suchte, indem er auswich und Alltag vorgaukelte, so gut er konnte. Glaubte sie tatsächlich, er sei blind, taub, stumm? Glaubte sie, es fiel ihm nicht auf, wie sie sich zurecht machte, wenn sie nach Berlin aufbrach, wie sie vor dem Spiegel die Lippen befeuchtete, wie sie sich eincremte und mit der Hand durchs Haar fuhr? Wie sie am Telefon kurz angebunden war und atemlos, wenn er sie mal in der Wohnung in der Weinertstr. erwischte? Wie sie ihr Handy abstellte und unerreichbar war für Stunden?

Er erinnerte sich nicht. Er wusste von nichts. Er war der betrogene Mann, der hoffte, solange er sich unwissend stellte, könnte er die Entscheidung verhindern, ließe sich unwirklich halten und machen, was anderswo geschah. Sie kam zurück. Sie kam doch immer zurück an den See. Darauf vertraute er. Seine Söhne waren die ihren. Das hielt sie. Und mehr. Sie gehörte zu ihm: Eine Vergangenheit, die zur einzigen Gegenwart geworden war, die sie beide ertragen konnten. Wem sonst könnte sie sich zumuten wie ihm in ihrer Verworrenheit und Verzweiflung, mit diesen Ausrastern und Verfehlungen. Er hätte vielleicht einschreiten müssen. Es belastete sein Gewissen gelegentlich, dass er die Kinder ihren Launen ausgeliefert hatte. Früh schon hatte er sich damit getröstet, dass sie niemals zu weit gehen würde, dass sie sich fing, wenn es nötig war. Darauf hatte er immer vertraut oder vertrauen wollen, weil es zu anstrengend geworden wäre, etwas anderes zu glauben.

Diese Sache, anders wollte er das nicht nennen, würde vorübergehen, machte er sich vor. Es war doch immer weitergegangen. Selbst damals in Chicago, als... Daran wollte er nicht denken. Auch das hatte sie alles falsch verstanden. Sich Dinge eingebildet, die nicht geschahen. Er hatte geträumt, ja. Für kurze Zeit hatte er sich erlaubt, wenigsten hinter geschlossenen Lidern noch einmal auf etwas anderes zu hoffen. Es war natürlich alles vergeblich gewesen und Fantasie geblieben. Aber gerade das, ahnte er, warf sie ihm vor. Er glaubte an die Ehe. An Verpflichtung und das Versprechen. „Das nennst du Liebe.“ Was sonst? Liebe hieß für ihn: bleiben. Oder zumindest zurückkehren. Er war zurückgekehrt. Willentlich. Freiwillig. Sie hatten nie darüber gesprochen. Weil es nichts zu besprechen gab. Ein jedes von uns lebt noch ein anderes Leben innen drin, verborgen, stumm, leidenschaftlich. Das hatten sie doch beide gewusst. Das muss man einander lassen. Er empfand das Schweigen nicht als Qual, sondern als Notwendigkeit. Was nicht ausgesprochen wurde, war auch nicht wahr. Er konnte fast alles mit sich selbst ausmachen, bildete er sich ein.

Etwas zog ihn an diesem Abend ans Ufer hinunter, obwohl er seine Ohren, wie er glaubte, genügend gegen den bösen Gesang immunisiert hatte, der ihn quälte. Das hätte er niemals zugegeben, wie sehr auch er in Einbildungen lebte. Kaum ein Hauch regte sich, die Hitze brütete unter den verschatteten Wegen und still ruhte der See. Er lächelte. Es gab da irgend so ein Gedicht, meinte er sich zu erinnern, das ging so oder so ähnlich. Er las keine Gedichte. Diese Erinnerung musste aus seiner Schulzeit stammen. Auf Annes Nachtisch lag immer Hölderlin. Früher hatte er manches Mal darin geblättert. Hochtrabende Worte, die für ihn keinen Sinn ergaben. Die Glätte der Wasseroberfläche machte ihn plötzlich zornig. Er hob einen Stein vom Boden auf und warf ihn mit Schwung weit hinaus. Es platschte und spritzte, ein paar feine Wellen kräuselten sich, die aber schnell verliefen und wieder war es ruhig. „Und ich liebe dich doch.“, das sagte er laut auf den See hinaus, trotzig beinahe, bevor er sich umwandte.


Im Flur polterte er ein wenig herum mit seiner Tasche und machte absichtlich Lärm, als er seine Schuhe auszog und ins Schuhregal stopfte. Anne sollte ihn hören und Zeit genug haben, sich darauf einzustellen. Nichts fürchtete er mehr, als diesen Augenblick, wenn er sie überraschte, wenn sie die Abwehr nicht mehr ganz verbergen konnte, bevor sie sich ihm zuwandte. Er öffnete die Küchentür: „Alles klar?“ Sie kam ihm einen Schritt entgegen und küsste ihn rasch auf die Wange, bevor er sie in den Arm nehmen konnte, um sich sofort wieder herumzudrehen und geschäftig im Topf zu rühren. „Du bist spät.“ Er trat hinter sie und hob den Deckel ein wenig hoch. „Chili con carne.“ „Wir essen in einer halben Stunde.“, sagte sie. Er verstand die Botschaft und verließ die Küche, um den Tisch im Esszimmer zu decken. Der idyllische Blick auf den See. Man konnte nicht schöner wohnen. Selbst das aber war zum Vorwurf geworden, glaubte er. „Ich liebe dich doch.“, dachte er, aber er sprach es nicht aus, auch nicht, als sie hereinkam und den Topf auf den Tisch stellte. Es war sinnlos.

20120915

MUTTERTIER ("Your turn, my turn")


Berlin, 15. August 2009, 18:12 (MEZ)

Das war nicht sein Land. Er vermisste den Sand. Er vermisste die Wellen gegen die Felsen. Er vermisste ein Board unter den Füßen und heiße Girls im Bikini. Märkische Erde ist doch sandig, sagte Annie. Bikinis trägt sie nicht mehr, sagte sie, seit sie die Söhne gebar und die madigen Streifen an den Hüften hatte. Aber das war keine Wüste mit Oasen, Berlin war eine schmuddelige Schlammpfütze. Alle Farben waren angegraut in diesem kühlen Norden. Es war Sommer und nichts glühte, nicht einmal der Asphalt. Nur er war erhitzt und rannte schwitzend durch die Stadt, nicht weil die Sonne auf ihn brannte, sondern weil er nicht wusste wohin, aber auch nicht still sitzen konnte, nicht in der schäbigen Wohnung, die er mit Karim teilte, nicht im Studio in den Garagen hinterm Ostbahnhof, wo er zwei Saiten seiner Gitarre zerrissen hatte. Sie ließ ihm keine Ruhe, diese Frau, die er nicht haben konnte und niemals gewollt hatte. Wer bist du, Annie, wenn du die Augen schließt? Wohin entgleitest du, wenn du dich unter mir durchdrückst und mir entschlüpfst? Was fühlst du, wenn du dein Kleid überstreifst und nur aus dem Handgelenk heraus ein wenig die Finger hebst, um zum Abschied ein Winken anzudeuten? „See you next week.“

Something involving a lie
Something between you and I
The light fades away
And the day turns to grey
And you say, say

Nächste Woche, Annie, nächste Woche sind sieben Tage, sieben Tage, die ich damit verbringe, mir in der S-Bahn Mädchen auszusuchen, schöne Mädchen, dunkelhaarige mit aparten Gesichtern, langbeinige Blondinen, zierliche, blasse Rotschöpfe, kühle Brünette, keine älter als zwanzig, mit langen Haaren, die ihnen über die Schultern fallen und mit Lippen, die sie zu einem ironischen Lächeln, schürzen, das sie mir schenken: „Geht was?“ Weißt du das eigentlich, Annie, weißt du, das, wie die Mädchen hinter mir her sind, immer schon? Nie habe ich Schwierigkeiten gehabt, eine zu finden, die mich mitnimmt. Ich gehöre nicht zu den Männern, die sich einbilden, sie könnten jede haben, aber ich kriege immer genug. Da ist was an mir, sagt Karim, was sie hinreißt, was Dunkles, Brodelndes. Ich brauche das nicht zu inszenieren, das ist einfach da, mein dickes widerspenstiges Haar, das ich wüst um den Kopf stehen lasse, die tiefliegenden Augen, vor allem die Falte über die Stirn, die mich älter und erfahrener macht, als ich bin. Sie wollen mich. Sie wollen diese Düsternis mit ihrer Heiterkeit erhellen. Sie wollen mich lachen machen, um mich dann zu verlassen. Denn das weißt du auch nicht, Annie, dass ich sie haben kann, aber keine halten. Du brauchst mich nicht zu bedauern, deswegen, denn ich habe das auch nie versucht. Mir reicht es sie zu erobern, sie hinzureißen und niederzuwerfen und ihr Glucksen zu hören an meinem Ohr, wenn sie sich ergießen. Das reicht mir. Die Zettel mit den Telefonnummern, die sie mir auf den Tisch legen oder in die Tasche stopfen, werfe ich immer gleich weg. So habe ich es in Sydney gehalten, so in Berlin. Ich sehne mich nicht nach Gesprächen mit ihnen, denn ich kann ihnen ohnehin nicht zuhören, weil ich auf ihren Ausschnitt starre und beobachte, wie die Spitze sich ein wenig herausschiebt, wenn sie sich vorbeugen oder in ihren rätselhaften blauen Augen versinke oder meine Hand über ihre Schenkel schiebe, wenn wir schon so weit sind. So habe ich es auch bei dir gemacht. Dennoch war es etwas anderes. Ich war mir sicher, wie ich mir immer sicher bin, wenn es um Frauen geht. Ich wusste, dass was geht. Aber ich ahnte auch, dass ich mich verstricken würde. Ich hatte dir schon zu lange gelauscht, Annie. Ich hatte mich an deine Stimme berauscht (die gar nichts Besonderes ist, wenn du nicht singst mit mir. Ich war deinem Blick ausgewichen, weil er mich traf. Dafür gibt es keine Erklärung und keinen Grund, denn du bist gar nicht mein Typ und niemand könnte mir nachsagen, dass ich auf ältere Frauen stehe. Wenn du fragen würdest, könnte dir jeder sagen, der mich gekannt hat, dass das abwegig ist.

Soft sure
As a knock on your door
Please say you´re there
Wait ,wasted
I´m here, I´m here
Lose it, yeah

„Ich könnte deine Mutter sein“, hatte sie gesagt beim letzten Mal danach, als sie sich von ihm weggedreht hatte, nachdem er sie bat: „Come with me. Let´s rock Bondi Beach.“ Du weißt nichts über meine Mutter und ich werde dir niemals etwas von ihr erzählen. Seine Mutter hatte ihn gehasst. Sie war ein Grab, aus dem er  geworfen worden war, zu seinem Glück. Das durfte sie nicht erfahren. Wenn sie wüsste, wer seine Mutter gewesen war, ließe sie ihn nie mehr herein. Er wolle von ihren Söhnen nichts wissen, beschwerte sie sich. Das tue ihr weh. Ich will nicht wissen, Annie, dass du eine Mutter bist. Er wollte nicht daran denken, dass sie Söhne hatte, denen sie das Grab schaufelte. Meine Mutter war eine Hexe und wohnte auf dem Grund des Meeres. Ihre Haare waren grün und ihr Gesang schauerlich. Sie riss ihr fauliges Maul auf, um mich zu verzehren. Ich habe ihr die Augen aus den Höhlen gerissen und die Zunge abgeschnitten, doch ihr starrer Blick verfolgt mich und ihr fürchterliches Gegröle schallt über die Ozeane bis ins märkische Flachland. Annie, ich will dich zu Tode küssen, denn wenn du den Mund öffnest, rieche ich das Meer.

Er stand auf der Brücke am Mühlendamm und spuckte in die Spree. Wohin fließt die Spree, Annie? Alle Flüsse münden im Meer. Seine Spucke für Bondi Beach. „CU next week.“ Eine Woche hat sieben Tage. Sieben Nächte. Sieben Mädchen. Eine Blondine im Mini-Rock stolzierte vom Nicolai-Viertel auf den Damm zu. Ihre rote Tasche wippt.e Ihre Hüften schwangen unter dem gestreiften Frotteestoff. Er spannte sein Gesäß an und schob das Kinn vor.

20110806

MARKIERUNG (Please be kind)

Berlin, 1. September 2009, 6:41 CET (Central European Time)

Ein morgendlicher Lichtstrahl drang wie damals durch die Zeltgestänge von Yarramundi ins Zimmer und beleuchtete Annies Körper. Die Stoffbahnen der gelben Vorhänge spielten mit dem Wind und die Lichtpunkte, die der Staub aufwirbelte, tanzten auf ihrer Haut. Er staunte, wie vertraut ihm dieser Körper schon war, die schlanken Beine, die kleine Grube im rechten Knie, das sie an das linke angelehnt hatte, die Hüften, die breit entspannt auf dem Laken lagen, der Nabel, der als ein dünner Strich in den flachen Bauch geritzt war, das winzige Muttermal, wie zwischen ihre Brüste getippt. Tomasz berührte mit seinem Mittelfinger vorsichtig einen der weißen Streifen rings um ihre Hüften und zog dessen Form nach, die Biegung, die ihn an einen Notenschlüssel erinnerte.

Lord, I feel you made the hills
Watch them roll

„I am your Lord.“ Nie zuvor hatte er so zu einer Frau gesprochen. Wie erschrocken sie gewesen war, als er zum ersten Mal die Schwangerschaftsstreifen mit seinen Händen erkundet hatte. Da war ihm klar geworden, was er vorher nur geahnt hatte: dass Annies Körper in gewisser Weise jungfräulich war, ein Körper, den sie noch keinen, Millimeter für Millimeter, hatte berühren lassen, nicht einmal jenen Mann, mit dem sie gezeugt hatte. Es waren in und auf diesem Körper weiße Flecken zu entdecken, selbst ihrer Ureinwohnerin noch fremd. Tomasz war vorgedrungen in diese Wildnis wie ein Eroberer, ungestüm, alles grob aus dem Weg räumend, was seinen Ansturm behinderte. Aber später hatte er begonnen, sich in den Spuren der Schneisen, die er geschlagen hatte, zurückzubewegen, Schritt für Schritt und dieses unbekannte Land zu ertasten, zu erhören, zu erschmecken. Das hatte sie mehr geängstigt als sein Überfall: diese neue Gier, sie zu erkennen. Er hatte ihr gesagt: „I want to map your body out, inch by inch.“ Sie hatte die Luft angehalten, ganz fest war der Bauch unter seiner Hand geworden, er hatte sich schwerer gemacht, sich schließlich mit seinem ganzen Gewicht auf sie gestützt, bis sie Luft holen musste, ihre Bauchdecke sich hob. Seine Hand hatte diese Bewegung wie eine Welle aufgegriffen und war darauf geglitten, unter ihre Achsel, an ihre Kehle, hatte zugedrückt, gekniffen, gestreichelt, seine Lippen waren der Hand gefolgt, überall hin, auch seine Zunge. Es ging nicht, sie verstand das sofort, um Erregung, es ging um Preisgabe. Er wollte, dass sie sich ihm öffnete, lernte sich zu entspannen, weiterzuatmen, sich seinen Händen, seinen Lippen, seiner Zunge auszuliefern. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er sagte: „Look into my eyes.“ Und sie wurde rot vor Scham, weil sie sich so sehr danach sehnte, von ihm entdeckt zu werden und weil er das sehen konnte.

I´ve seen the promised land
And that is all.

Wie zweidimensionale weiße Maden lagen die Streifen auf ihren Hüften, derentwegen sie so verlegen gewesen war. Tomasz begriff, während sein Finger einen nach dem anderen dieser Streifen nachfuhr,  dass es gerade auch diese unschönen Streifen waren, die ihn an sie banden. Es berührte ihn etwas an dieser unscheinbaren Entstellung: dass sie besessen worden war auf eine Weise, auf die er sie nie besitzen würde. Sie markierten die unstillbare Sehnsucht, die schließlich alle Gier, mit der er sich auf sie warf, in verzweifelte Zärtlichkeit wandelte.

Please be kind
Please be kind

Es war der letzte Tag im Sommercamp von Yarramundi gewesen, an dem er den Vogel tötete. Als seine Eltern aus dem Wagen stiegen, schrien die Jungen: „Tomasz hat den Kookaburra getroffen.“ Sein Vater, weißhaarig, aber bemüht, kumpelhaft zu wirken, hatte ihn abgeklatscht, als hätte er eine Heldentat vollbracht. Tomasz suchte die Augen seiner Mutter, die im Wagen sitzen geblieben war. Doch sie nahm die Sonnenbrille nicht ab. Als sie ausstieg, sah sie nicht mal zu ihm hin. Stumm öffnete sie die hintere Tür und setzte sich auf die Rückbank. Sein Vater zuckte die Achseln. „Nach Hause, Tomasz?“ Auf dem Beifahrersitz neben seinem Vater blickte er starr nach vorn durch die Windschutzscheibe und kämpfte darum, die Tränen zurückzuhalten. Er schaltete das Radio ein. Ein Kinderchor sang „Kookaburra sits in the old oak tree...“ und er hörte seine Mutter hinter sich mitsummen.

Please be kind
Please be kind

Tomasz fing die salzige Träne mit der Zunge auf, bevor sie auf Annies Schulter fallen konnte. „Falling in love“, er hatte das nicht für möglich gehalten, dass ein solcher Sog entstehen könnte, als ginge er unter. Er wollte das nicht. Es war unmöglich, das zu wollen: eine verheiratete Frau, die alt war und nicht außergewöhnlich schön, eine verdammte Mutter vor allem, die dauernd von ihren Söhnen sprach. Er hasste das. Aber genau das war ihm passiert. Er hatte gedacht, es sei eine sportliche Herausforderung, die er sich stellte: Verführe die Unnahbare, leg die Alte flach! Tatsächlich hatte er sich von Anfang an etwas vorgemacht. Das wusste er jetzt. Er hatte ihre Hände beobachtet, wie sie durch die Luft flatterten, wenn sie redete vor dem Kurs. Dass er so auf sie gesehen hatte, während er „Ich, Du, Er/Sie/Es“ von ihr lernen sollte, das hätte ihn warnen können. Wenn einer geil ist, schaut er einer Frau auf die Brüste oder die Beine. Wenn er sich verguckt, .... Man denkt, man schaut in die Augen. Aber sie war seinem Augenblick immer ausgewichen und er hatte nicht versucht, ihn zu fixieren. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen und obwohl sie nie nach ihm hin sah, war er sich sicher, dass sie sich für ihn bewegte, so. Sie hatten sich nicht angesehen, wochenlang, schien ihm, und dennoch hatte er da schon kaum an etwas anderes gedacht, als an sie.

The old way out
Is now the new way in

Sie war die Ältere, aber er war der Erfahrene. Sie wusste viel, aber er konnte sie beherrschen. War es ihm darum gegangen? Er hatte sich auch das eine ganze Weile eingeredet. In Wirklichkeit aber, so fühlte er, als er behutsam seinen Körper ganz eng an den ihren schmiegte, hatte sie die Gewalt über ihn gehabt und immer behalten. Er sehnte sich nach ihr, weil er sie nicht haben konnte, er war verrückt danach, sie den Verstand verlieren zu lassen, weil er wusste, dass sie sich am Ende wieder im Griff hatte, während er immer nur liegen bleiben wollte neben ihr. Wenn sie aufwachte, würde sie ihre Sachen zusammenpacken und gehen. Nach Hause. Verdammt.

I see that life
But it won´t begin.

20110313

SESSION (I´d dive for your memory)

Berlin, 16. September 2009, 21.12 Uhr (CET, Central European Time)


If the cliff were any closer
If the water wasn´t so bad
I´d dive for your memory
On the rocks and sands

Tomasz drehte den Regler auf: comecomecomecomecomecome. Annies und Karims Stimmen, die sich antrieben, eins wurden, sind: sie kommen, sie fahren in einem Zug, WIR. Karim in TRAIN SPACE gelangt hinein in Annie, verschmilzt mit ihr, so wie er, wie Tomasz es ersehnt, begehrt, wenn er sie in vergewaltigender Umarmung gegen die Wand drängt, in sie stößt, wenn er sie keuchend auf der Liege begattet, so gierig, so gewalttätig, so hilflos, weil er nie ankommt, sie nie erreicht, weil sie, egal wie tief sich ihre Nägel in seinen Rücken graben, wie laut sie schreit, doch immer die bleibt, die er nicht findet, nicht kennt, nicht versteht, weil sie, wenn sie ihm verwundet in die Augen aufschaut, ihm so fremd ist, dass er sie schlagen möchte: Annie, Annie, Annie – wer bist du? Sie hebt die Hand, sie will seine Wange streicheln, sie sieht seinen Blick, sie senkt die Lider, sie verbirgt sich hinter den Wimpernschlägen. Annie. Fuck you.

Karim hatte in der Tür des Hinterhofstudios gelehnt, erschöpft, sich eine Zigarette angezündet, den Kopf zurückgelehnt und Annie zugeschaut, die ihren Rucksack aufsetzte. Verschwitzt waren sie gewesen, die T-Shirts an den Rücken nass, die Haare verstrubbelt, als hätten sie miteinander getrieben, was Annie und er, Tomasz, letzte Nacht tatsächlich getan hatten. Ahnte Karim es? Tomasz war sich nicht sicher. Doch, dachte er, er kennt mich gut genug, er weiß es. Als Annie gegangen war, hob Karim den Kopf: „Great. She´s unbelievable. Greatest session I´ve ever had.“ Tomasz nickte. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte dem Freund die Faust ins Gesicht geschlagen. TRAIN SPACE. Karim hatte Recht. So etwas hatten sie noch nie eingespielt. Was zwischen Karim und Annie geschehen war, das Treiben, das Finden, die Lust, die Fahrt, die Trommelwirbel, die Bässe, das Anrufen und Widerrufen, die Echos und schließlich die Verschmelzung der Stimmen, das Ausklingen des Räderwerks, die endliche Beglückung – der Song hatte alles in sich aufgenommen, in diese Aufnahme gesogen, die genial war, das wusste Tomasz. Es war sein Song, ein guter Song, melodiös und schräg zugleich, verspielt am Anfang, dann hektisch, Rhythmen variierend, Beschleunigung, Refrain, Ausklang. Aber so wie Karim und Annie ihn  gespielt hatten, konnte er nie wieder gespielt werden. Das war unwiederholbar. Er hatte es aufs Band fixiert, dieser Moment war verewigt, bleibend gemacht durch seine, Tomasz, Technik. Er hatte die Frau, die er liebte, um eines Liedes willen an einen anderen vergeben. An Karim, der den Vogel singen hörte. „There was the kookaburra and you heard him sing my songs.“

I´d dive for you
Like a bird I´d descend
Deep down I´m lonely
And I miss my friend

Karim wusste sofort, wovon er sprach. Jener Sommer im Outback lag zwanzig Jahre zurück. Karim hatte den Vogel lachen hören und Tomasz´ Stein hatte ihn vom Ast geschleudert. „You killed it...“ Karim drückte seine Zigarette aus und packte ein. „It´s her. It´s Annie. You´re gonna hurt her, too, Tomasz.“ Tomasz antwortete nicht. Was sah er in Annie? Das Unberührbare, das er immer schon hatte besitzen wollen. Aber sie ließ sich nicht nehmen, egal, wie sehr er sie sich unterwarf. Sie wollte aufgenommen sein. Und Karim hatte es getan. Karim verwirklichte, was er, Tomasz, erfand: Das war der Pakt. Comecomecomecomcomecomecome. Annie war hineingeraten in dieses Spiel: Himmel und Hölle. Engel und Teufel.  Fuck you, Annie.

Now, I dive black waters
The waters of her dream
Are black and forgetful
I´d like to make them clean

20110108

BLICKLOS (And I wish him well)

Berlin, 9. Oktober 2009, 18.05 Uhr (Central European Time CET)

I know the land
And the coloured sand
Everythings fresh at the source in that land

Das also war sie gewesen, seine letzte Begegnung mit Annie. Ein Augen-Blick, der nicht stattfand, denn sie war ihm ausgewichen. Hatte über seine Schulter, gegen seine Brust, auf ihre Schuhe gestarrt. All ihre Versuche, ihn zu sprechen, hatte er vorher abgewehrt. Sein Mobile ausgeschaltet, die Festnetzleitung aus der Wand gezogen. Mit Karims Eltern jedoch hatte er mehrmals von der Botschaft aus telefoniert. Es war viel zu regeln, um Karims Asche nach Hause zu bringen, an den Strand und ins Meer zuletzt, wie er es, behauptete die Mutter, gewünscht hätte. Tomasz konnte sich nicht vorstellen, dass Karim sich tatsächlich mit seinem Tod beschäftigt hatte. I´m the depressive drug abuser, for all I know, not you my friend. My fiend. Dennoch - so würde es sein: Die Freunde, Karims Familie, ein Lagerfeuer am Strand, Gitarrenmusik, in die Wellen laufen mit der Asche, sie auflösen im Ozean. Es fühlte sich richtig an, egal, ob Karim das selbst geplant hatte oder die Mutter in ihrer verzweifelten Sehnsucht, dem geliebten Sohn noch einmal etwas recht zu machen, es sich ausdachte. Die australische Botschaft hatte ihm geholfen, den Papierkram zu erledigen, mitfühlend und engagiert eine junge Frau, betroffen vom Tod dieses Musikers, der nur wenige Jahre älter als sie gewesen war und von der Traurigkeit des struppig-schönen dunklen Ritters Tom. 

In dem ganzen Annie-Jahr hatte es keine andere Frau gegeben, trotz der vielen Tage und Nächte, die er ohne sie gewesen war. Warum nur hatte er sich so fixiert, so verrannt? Er begriff es nicht mehr. Die alte Frau, dachte er, ich habe meinen Freund gegen einen Baum gehetzt wegen einer Frau, die beinahe, - hatte sie das nicht selbst immer wieder aufgebracht? -, meine Mutter sein könnte. Manche werden mit sechzehn schwanger. Als ich zum ersten Mal einen Jungen küsste, warst du noch nicht mal geboren. Fuck you, Annie.

Da war sie nun vor ihm und fuhr fahrig mit den Fingern durchs Haar. „Ich muss...“, fing sie an. Doch er unterbrach sie sofort: „I´m going home. Tomorrow.“ Sie schluckte, immerhin schluckte sie, aber dann drehte sie sich um zu einem jungen Mann, der hinter ihr stand, den er noch gar nicht wahrgenommen hatte. Sonderbar das, denn es war ein Riese, der seine Hand auf Annies Arm legte und sagte: „Mama...“ Damn. Der Sohn. Ein Jahr lang hatte er Annie geliebt und sie besessen, doch sie hatte einen Sohn und noch einen und einen Mann, ein komplettes anderes Leben, das er ignoriert hatte, das es nicht gegeben hatte, wenn es sie beide gegeben hatte und jetzt, hier, am Tag vor seiner Abreise wurde das leibhaftig, das andere Leben, stand gigantisch mit hängenden Armen gelassen dar und sagte: „Mama.“ Annie nickte hinauf zu dem: „Mein Sohn.“ und hinüber zu ihm „Das ist Tomasz Hosni. Einer meiner Studenten vom Goethe-Institut“. Sie gaben sich die Hand. „Woher kommen Sie?“, fragte der höflich, während Annie hastig noch mal rief: „Ich muss....“ und dem Sohn zu: „Wartest Du hier, ja?“. Weg war sie und da stand er vor den Hackeschen Höfen mit ihrem anderen Leben und wusste dem nichts zu sagen. Drei Mal, Annie, hast du mich verleugnet, wie Petrus den Herrn. You ´re not Jesus. Wann hatte sie das gesagt? Unter ihm, als er die Wahrheit gesprochen hatte: I am your lord.

I know the sound
As the sun goes down
Everythings fresh as the sun goes down

„Aus Australien. Ich habe ein Stipendium gehabt hier in Berlin für meine Musik. The Grant McLennan Fellowship. Well, you might not know...“ „Doch. Doch.“, lachte das große Kind „Die Go Betweens, meine Mutter hört sie rauf und runter. Da war sie sicher begeistert.“ Wenn du wüsstest, wovon deine Mutter begeistert war, wenn du das wüsstest, dann stündest du anders hier. „Meine Band heißt: Poor Heirs. Wir sind bei My Space.“ „Das hör ich mir mal an.“ „Ich gehe zurück nach Hause.“ „Nach Sydney?“ Tomasz nickte. „Würde ich auch gern mal hinfahren.“ Ich reise, dachte er, mit der Asche meines Freundes im Gepäck, den ich gegen einen Baum habe fahren lassen, auf dem Weg in euer verdammtes Neuglobsow am See, wo du daheim bist, Annies anderes Leben, in das ich eindringen wollte, mit ihm, der mich verraten hatte. Mit der Heiligen Annie hat er mich verraten. Aber, Annie hüte dich, denn jetzt habe ich dich erwischt. Das Kind wird dich hören auf MySpace, es wird hören, was du getan hast mit Karim, das kann keiner überhören: Comecomecomecomecomecome. Das kannst du nicht wegleugnen und lächeln. Das Kind wird begreifen. Wenn ich schon Down Under bin, wird dein Sohn dich fragen: Wer ist das, Mama, mit dem du gekommen bist? Und das wird Karim sein, der Tote.

And I wish him luck
I hope he get´s it right
As he lives my life.

Dann war sie wieder da, drückte dem Sohn eine Tüte in die Hand und ihm, Tomasz, legte sie flüchtig die Hand auf den Arm: „Ich wünsche dir einen guten Flug, Tomasz.“, beugte sich ein wenig vor, streifte mit ihrer Wange die seine und flüsterte an seinem Ohr: „I´ve got visa.“ Dann war sie weg, verschwunden in der Menge, die sich die Oranienburger hinaufdrängte. Fuck you, Annie. Dafür werde ich dich noch mehr hassen. Ich fliege zurück, weil ich dich los werden muss. Comecomecomecomecomecome. Aber es war Karim, mit dem sie das Duett gesungen hatte.

And if you see him
Tell him I´ll be him
As I live his life

20100531

KOPFLOS (Love is a sign)

30. Oktober 2009, Sydney, 00.34 Uhr (Australian Central Standard Time ACST)

Standing on a sunken canoe
Looking up at the waterlilies
They´re green and violet blue
Still the sun finds a place to light me
Still the sun finds that it´s warm beside me


Er hatte sie im SpeakEasy aufgegabelt, wo sie an der Bar einen grünen Cocktail getrunken hatte. Das passte ihm gut: eine Gegen-Annie, die klebrige Cocktails schlürfte, Netzstrümpfe trug zu einem violetten Minirock und ein knappestmögliches Top. Die großen Brüste wurden vom sonnengelben T-Shirt-Stoff kaum bedeckt. Wenn sie sich vorbeugte, eröffnete sich ein Blick links oder rechts auf einen dunkelbraunen, großflächigen Brusthof. Sie wollte heute noch einen Mann, das zeigte jede ihrer Bewegungen, die Art, wie sie die  Beine übereinander schlug, um sie dann wieder auseinander zu flechten, ihr Zeigefinger, der mit sanften Druck über den Glasrand strich.  Die war genau, was er brauchte, nichts zierlich Verklemmtes an ihr: Das hier war eine Frau, die wusste, was sie wollte und die  wollte, was sie kriegen konnte. Gegen-Annie saß an der Bar, als hätte er sie sich für diese Nacht dort hin phantasiert.

An Karim allerdings, hatte er sich vorgenommen, an Karim würde er nicht denken, nicht an Karims Blut an der Landstraße in Brandenburg. MINDLESS. Dieses Blut hatte er sich tagsüber im Studio ergießen lassen zwischen die Bankentürme der City; in den Häuserschluchten hatte er die verdrehten Körper der Krawattenträger getürmt und deren Gehirne statt Karims auf die Pflaster gespritzt, indem er den Regler aufundab drehte und ein nervenzerrendes Kreischen erzeugte. Gut war es schließlich, wenn der porzellane Atem der weißen Elfe aus dem Wald der Wälder über die Leichenberge hauchte (volume down) und der dunkle König zurückkehrte auf seinen Thron, geschnitzt aus den Knochen der Geldjäger (volume up). Die rosabackenen Nymphen tanzten und gaben sich freudig den Waldmännern hin. Gedankenlos vollzog sich, was geschehen musste. Er saß auf dem namenlosen Hügel und sah die Welt brennen. (explosion) Gut. Er hatte den ersten Song aufgenommen seit... Nicht daran denken. Musik machen. Ficken. Annie. NICHT Annie. Fuck you, Annie.


The world is too big or too small
I won´t be the madman then
It will be me that´s come to call
Me in freezing weather
Snow cuffs on my wrist
You down the river
And London no longer exists

Sie war keine Goldgräberin. Sie wollte keinen Mann aufreißen, um sich über ihn, sein Geld oder seinen Status Glanz zu verleihen. Rosie schimmerte, weil sie glühend heiß lief und Hitze abstrahlte: purer Sex. Solche Frauen gab es auch. Er hatte sich neben sie an die Bar gelehnt, den Körper zunächst noch von ihr weg gedreht. Sie hatte ihn taxiert und Tomasz wusste genau, was er zu bieten hatte.

"Mein zerzauster David", hatte Annie gesagt. Zerzaust. Unaussprechliches Wort. "What does it mean?" "Tousled hair." Tomasz fuhr sich mit der rechten Hand durch das dunkelbraune, fast schwarze Haar. Er liebte es, seine dichten Haare zu zerwühlen oder sie zer - z a u s en zu lassen von willigen Frauenfingern. Ab und an schnitt er ein paar Strähnen, die ihm zu dicht an die Augen hingen mit der Nagelschere, kreuz und quer. Zauselkopf. Er wusste, dass dies Struppige ihm stand, darunter die markante Nase, die steile Falte über der Nasenwurzel, der schmale Mund, das eckige Kinn. Seine wuseligen Haare gaben dem betont Männlichen etwas Jungenhaftes, schufen Nahbarkeit und Vertrauen. Wo es unangebracht war. Das werdet ihr noch merken, Ladies. Das hast du gemerkt, Annie. Und genossen. Er hatte nur drei Knöpfe des zerknitterten Hemdes geschlossen, gab die Blicke frei auf seinen glatten Oberkörper, der selbstverständlich enthaart war. Das hatte Annie erstaunt. Ihn hatte ihr Staunen überrascht. Alle seine Freunde enthaarten sich. Aber für Annie war es wieder ein Grund mehr gewesen, auf den Altersunterschied hinzuweisen."Michelangelo´s David hasn´t got any hairs, too." "Ja. Er ist zu perfekt. Wie du." Er hatte gelacht. "Hell. Certain parts of him are a bit... small, what do you think, babe?" Und er hatte ihre Hand an seinen Schwanz geführt. 

Die Erinnerung erregte ihn. Aber er wollte sich auf die Gegen-Annie konzentrieren. Er hatte nicht genügend Geld dabei, um ihre Drinks zu bezahlen. Sie musste ihn so sehr wollen, dass es nicht darauf ankam. Er drehte sich zu ihr herum und öffnete dabei leicht die Beine. Wenn sie hinunter schaute (was sie aber sicher nicht sofort täte, etwas Lenkung brauchte sie schon), sähe sie sein Begehren. Schätzte er sie richtig ein, so würde sie nicht schamhaft erschrecken und es überspielen, sondern darauf eingehen, zunächst mit Worten und Blicken. Er betrachtete sie ohne Scheu von unten nach oben: gute Beine, vielleicht ein wenig zu stark um die Fesseln, viel Hintern, dafür eine recht schmale Taille, üppige Oberweite, alles Bondi-Beach-sonnengebräunt. Die hellbraunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, Strähnen fielen ihr als Pony in die hohe Stirn, darunter eine aufgeschwungene Kindernase, ein breiter, rot geschminkter Mund; die grauen Augen standen weit auseinander, sie hatte nur die Wimpern getuscht, weiter kein Makeup aufgelegt. Das hatte sie auch nicht nötig. Tomasz suchte ihren Blick und glitt mit seinem dann ostentativ wieder hinunter auf ihre Büste. Da erst nahm er das Muttermal wahr, das wie eine kleine, dunkle Holzperle direkt zwischen den Brüsten lag. Augenblicklich spürte er, dass sein Glied noch härter wurde. Love is a sign: ein Mal, wie es auch Annie zeichnete. Nur dass es bei Annie kleiner war und sich nicht flächig abhob, sondern hingetupft dalag, unerspürbar von seinem Zeigefinger, der es umrundet hatte. A thousand times.

Sie hatte seinen Blick inzwischen aufgenommen, war ihm gefolgt hinunter zu ihren Brüsten und geschweift in seinen Schoß. Sie hatte es gesehen, dessen war er sich sicher. Er griff nach ihrem rechten Handgelenk. Ihre Finger berührten den Stiel des Cocktailglases. Aber er ließ es sie nicht anheben, nicht jetzt. "You´re driving me crazy." Kein origineller Spruch war das, aber darauf kam es, davon war er überzeugt, bei ihr nicht an. Das drückte exakt aus, wie sie sich sah, wie sie auch tatsächlich wirkte: Eine Frau, die Männer verrückt machen wollte und es tat, weil sie zeigte: Ich will es, wie du es willst. Weil sie die demütigenden Spielchen überflüssig machte, zu denen Männer gewöhnlich gezwungen waren, um an eine Frau heranzukommen. Weil sie sich nicht schämte zu sein, was sie war: eine Frau mit Verlangen nach einem Mann. Das gab es nicht oft. Zu vielen Frau war anerzogen worden, den Jagdinstinkt des Mannes zu wecken durch Scheu, Verweigerung, Zurückweisung. Und zu viele Männer, auch das hätte Tomasz jederzeit zugegeben, mochten zwar bei Gelegenheit eine Frau wie sie benutzen, brachten ihr jedoch keine Achtung entgegen. "She´s a slut." Er dagegen würde sie dafür respektieren, dass sie es sein wollte und sich nichts vormachte und ihm nicht. 


I´m not a playboy or a poet
There´s no cool water from the well
I wish you had a big house
And that your work would start to sell
Wave after wave
Our tension and our tenderness

Sie legte ihre linke Hand auf seine, als wolle sie ihn abwehren. Aber zugleich lächelte sie ihn an und senkte erneut für Sekunden den Blick. Er hielt ihr  stand: "I want you." "You´re very self-confident, darling.", antwortete sie. "Yeah, luv. What´s your name?" Noch immer lag ihre linke Hand auf seiner rechten. Aber beide hatten sie den Griff gelockert. "Rosemary." "Rosie, baby. That´s beautiful. I´m Tomasz." "Thomas?" "No, I´ve got hungarian ancestors. Tomasz. But you can call me Tom." "Tom." "You´re hot, baby." "Uu.." Er fuhr mit dem rechten Zeigefinger ihren Arm hinauf. Sie hatte ihre Hand weggenommen. Sein Finger glitt unter den Spaghettiträger ihres Tops. Wie einfach das bei ihr war; er fühlte unter seinem Finger die wohlige Gänsehaut, die sich auf ihrem Arm ausbreitete. Sie konnte das zulassen. Was für eine Frau. Eine Frau. Er brauchte eine Frau so dringend, ein Gegenmittel gegen das Annie-Fieber, den Karim-Brand.

Wenig später zahlte Rosemary ihrer beider Drinks. Sie hatte ihm keine Kurzfassung ihres Lebens erzählt, auch keine lange. Wahrscheinlich gab es noch nicht allzu viel zu erzählen, denn sie war erst, immerhin das hatte er erfahren, zweiundzwanzig Jahre alt. Es war in der Tat, als habe er sie bestellt: die ideale Besetzung als Gegengift. Sie ließ sich ein auf den von ihm begonnen eindeutigen Flirt, der nur ein Ziel haben konnte, das beide nicht verbargen: den Fick. Und nun standen sie auf der Straße und es gab bloß noch die Frage: Zu mir oder zu dir? Tomasz hatte auch diese Frage längst entschieden. Er wollte mit Rosie in sein Appartment, so sicher fühlte er sich, sie durchschaut zu haben. Rosie suchte keine Beziehung, sie würde keinen Kaffee kochen und kein Frühstück erwarten am Morgen und nicht zwingend einen Anruf am nächsten Tag. Sie würde sich ein Taxi rufen und verschwinden, wenn ihre Lust gestillt war. Vielleicht würde es ein nächstes Mal geben, vielleicht nicht. Sein Zimmer mit Kochnische lag nur wenige Straßenzüge vom SpeakEasy entfernt. Sie konnten mühelos durch die leicht abgekühlte Sommernacht hinlaufen und er ersparte ihnen beiden die Bezahlung des Taxifahrers, die wiederum Rosie hätte übernehmen müssen, was vielleicht sogar ihr dem Sex mit ihm zu sehr den Beigeschmack eines Callboy-Abenteuers gegeben hätte. Ihr war sein Vorschlag offenbar recht. Auch hierin hatte er sich nicht in ihr getäuscht. Es war ihr angenehm zu wissen, dass sie verschwinden konnte, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Auf dem Weg ging er zunächst neben ihr, ohne sie anzufassen. Sie versuchte auch gar nicht seine Hand zu ergreifen oder sich in seinen Arm zu schmiegen, sondern stakste auf ihren Highheels mit durchgedrücktem Rücken und schwingenden Hüften neben ihm her. Sie war mit diesem Schuhwerk fast so groß wie Tomasz. Dann - ganz plötzlich - drehte er sich zu ihr hin, presste sie gegen die Hauswand und stemmte sein Knie zwischen ihre Beine. Sein Mund suchte ihren Mund und glitt mit seiner Zunge hinein, die ihre kam ihm entgegen, umspielte sie. Sie bog ihren Unterleib nach vorne und ließ den Kopf zurück sinken, um seine Zunge in sich einzusaugen. Ihre Hände waren längst unter seinem Hemd. Die seinen suchten unter dem Top ihre vollen, doch festen Brüsten zu umfassen. Sie waren so groß, dass er sie gerade bedeckten konnten. Er drückte beide gleichzeitig fest und sie stöhnte, wie erwartet. Sie küsste ihn erneut gierig, dann glitt sie hinunter zu seiner Brust und tiefer. Sie war offenbar bereit, ihn auf offener Straße zu befriedigen. Schon war sie auf den Knien und fingerte an seinem Reißverschluss. Er schaute hinunter auf ihren Pferdeschwanz, der von einem Gummiband mit Plastiksonnenblume gehalten wurde.  "I gonna make you happy.", hörte er sie murmeln. In ihrem Nacken war einige Haare aus dem Band gerutscht und kräuselten sich, bildeten einen zarten Flaum auf der samtig braunen Haut. Sie wirkte so eifrig und beflissen, wie sie sich an seinem Hosenlatz abmühte und er wusste, er müsste ihr ihrem Eifer längst seine Gier entgegensetzen. Doch er fühlte mit einem Mal nur noch eine sanfte Zärtlichkeit für dies getriebene Wesen unter ihm. Seine Erektion schrumpfte zusammen, nicht ruckartig, sondern klang wie eine Welle aus und er fühlte nicht mal  Bedauern. Love is a sign. Er strich dem Mädchen übers Haar.  "Rosie, dear."

Sie schaute verwirrt nach oben. "Darling, you´re so sweet. But..." Sie richtete sich auf, krabbelte an seinem Körper nach oben. Man merkte jetzt, dass sie ein wenig zuviel getrunken hatte. Er hielt sie fest, nahm sie in den Arm, küsste sie sanft, glitt mit dem Mund besänftigend über ihr ganzes Gesicht. "Sweetie. Sweetie." Sie bot ihm an, mit zu ihm zu gehen, einen weiteren Versuch zu unternehmen. Er lehnte ab. Er versuchte es sehr freundlich und liebenswürdig klingen zu lassen. Das kostete ihn keine Mühe, denn er fühlte tatsächlich ungeheuer viel Wärme und geschwisterliche Liebe für sie. Er wollte ihr das zeigen, wie herzlich gern er sie hatte, doch begriff sie es nur als weitere Kränkung. Dass er sie nicht mehr mitnehmen wollte hinauf in sein Zimmer, wie hätte sie das auch anders verstehen können? Mit dem Mobile rief er ihr ein Taxi und blieb fürsorglich neben ihr stehen, bis es eintraf. Sie hatte sich von ihm weg gedreht, stand hoch aufgerichtet und einsam am Straßenrand, sich mühsam eine stolze Haltung verleihend, aber im Grunde vollkommen aufgelöst. Er wünschte fast, sie hätte geweint, dann vielleicht hätte er sie trösten und doch noch ihre Verzeihung erlangen können. So aber blieben sie stumm, bis das Taxi kam. Er öffnete ihr die Tür und sagte: "You´re the sexiest woman I´ve met for years, Rosie." Sie schwieg. Aber als ihr Taxi losfuhr, ließ sie die Scheibe hinunter und brüllte hinaus: "Fuck you, Tom." Sie war nicht klug, nein, und auch nicht originell. Aber wie hätte ausgerechnet er ihr das vorwerfen sollen?

Oben in seinem Appartement blieb Tomasz, nachdem er aufgeschlossen hatte, in der Dunkelheit neben der Tür stehen. Er hatte das Oberlicht über der Kochzeile offen gelassen. Durch das Hupen und bienenartige Summen vereinzelter Autos, die in der Nacht kreuzten, meinte er das Rauschen des Meeres zu hören. Er ging hinüber und stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch das schräge Fenster  einen flüchtigen Blick auf den Ozean zu werfen. Dunkel wogte er in der Nacht, schimmernd das schlammige Düstergrün, die rauchblauen Wellen, die silbrigen Kämme, darüber grauschattiert der wattige Himmel. "I live on the beach now, Karim. As in your dreams. Miss you, my friend." Karim, der den Ozean geliebt hatte, war fern vom Meer gestorben. Darüber würde er nie singen können. Stattdessen hatte er den Hass vertont, mit dem er den Schmerz zudeckte,  um den blutenden Schädel des Freundes auf dem Waldboden zu vergessen. "MINDLESS. We were totally mindless. Searching for Annie. Lake Stechlin. Fuck you. Karim. Fuck me, Karim."


The letters that we´re writing
Baby, they just break our hearts
And when we get back together again
There´s just no time to start
No time to restore
It´s all on the ground
What you´ve been doing
Against what I´ve found
And this is what I find
No matter what you say
No matter what you do
I want to be the one
And
Love is a Sign

20100322

HAAR IM SEE (Man O´Sand to Girl O´Sea)

Institut für Gewässerökologie, Abteilung Limnologie geschichteter Seen
Stechlinsee, 13. November 2009, 17.55 (Central European Time)

Bert saß am Labortisch, vor sich aufgereiht und nummeriert die Wasserproben des Tages. Den langen Oberkörper beugte er mit rundem Rücken nach vorne, die Schultern etwas zusammengezogen. Ungesunde Sitzhaltung, würde Anne sagen, kein Wunder, dass du Rückenprobleme hast. Sein Nacken war steif. Es schmerzte, mehr aber noch hinter der Stirn als an der Wirbelsäule. Das silberne Haar. Der Gesang in seinem Ohr. Er konnte sich nicht gerade halten. Für einen Moment presste er den Kopf auf die blanke Tischplatte. Dann riss er sich hoch. Das war ein Fehler. Der Schmerz kehrte mit doppelter Stärke zurück.

Gewässerprobe 11/13/2009-X345082. Nach der Mittagspause hatte er begonnen, die heutigen Proben zu analysieren. Probe X345082 war die dritte, die er unter dem Mikroskop betrachtete. Das Haar fiel ihm nicht sofort auf. Er schob mit der Pinzette ein Plankton beiseite. Da war es: Ein feines Haar, etwa 20 cm lang, silbrig schimmernd. Er schrieb es in den Katalog, verschloss die Probe, fuhr mit seiner Arbeit fort.

Doch es ging ihm nicht aus dem Kopf, das Haar. Der Schmerz begann exakt sieben Minuten, nachdem er die "Haarprobe", wie er sie nun schon nannte, wieder verschlossen hatte. Er durchsuchte die anderen Proben. Nur diese eine enthielt ein Haar. Er nahm die Probe erneut zur Hand, hob das Glas gegen das Fenster. Er konnte das feine Silberhaar jetzt mit bloßem Auge erkennen.

Die Musik, die verrauchte Kneipe, Anne, die den ganzen Abend Bier und Schnaps getrunken hatte, über den Tisch gelehnt, jedem tief in die Augen gesehen. Oh Gott, wie sie das konnte, jedem das Gefühl geben, dass sie nur ihm zuhörte, den Mund halb offen wie ein Kind, die Augen aufgerissen, jedes Wort aufsaugend, zwischendurch ein staunendes "Ja?", das einen noch weitertrieb. Er hatte rechts neben ihr gesessen, die Hand hinter ihrem Rücken an ihrem Hintern. Gerne hätte er ihr den Arm um die Schultern gelegt, aber er wusste, sie wollte das nicht. "Ich will mich bewegen können, wenn wir unterwegs sind. Du sollst mich dann nicht so festhalten. Halt mich jetzt." Manchmal strich er mit dem Daumen am Ansatz ihrer Wirbelsäule entlang. Aber sie war auf der Sitzbank weiter nach vorne gerückt, die Arme und Hände lang ausgestreckt, mal nach links zu Georg hin oder zu Stefan, mal nach rechts zu Katrin und ihnen gegenüber saß Toni, von dem sowieso jeder gewusst hatte, dass er Anne liebte. Jemand hatte Spring Hill Fair aufgelegt und Annes Körper begann zu vibrieren. Und bei d e m Lied dann kletterte sie auf den Tisch und bewegte sich langsam, schlangenartig, warf den Kopf zurück, die Lippen aufgerissen. "The Traffic Lights on the Street of Love have just turned red.. turned red and..." Alle konnten sie sehen und alle sahen sie und am liebsten hätte er sie runtergerissen. Aber er wusste, das hätte sie ihm nie verziehen.

Feel so sure of our love


I'll write a song about us breaking up.

Er zwang sich mit seiner Arbeit fortzufahren. Zwischendurch ging er mal rüber in sein Büro, führte ein paar Telefonate, spielte mit dem Foto auf seinem Schreibtisch: Anne und die Jungs im Garten beim Fussballspiel. Kein gestelltes Familienbild, das hatte sie nicht gewollt. So hatte er nun dieses Bild, man konnte sie kaum erkennen, sie stand halb mit dem Rücken zur Kamera, das Haar wirr im Gesicht, den Mund aufgerissen, den Ball spitz am Fuß. Anne, die nicht erwachsen werden will. Aber morgens wirft sie sich jetzt in ihre Stiftröcke, malt sich die Lippen und sieht aus wie eine Dame. Wer hätte das gedacht.



Man O'Sand to Girl O'Sea


Says it's love you'll get from me
Man O'Sand to Girl O'Sea
Says it's love you'll get from me

Toni starrte unverhohlen Anne unter den Rock, die wie in Trance tanzte. Am liebsten hätte er ihm eine reingehauen. Aber das konnte er nicht. Und Toni war ja auch völlig ungefährlich. Trotzdem: "Das ist meine Frau. Meine Frau. Meine Frau." Sie hätte ihn ausgelacht, wenn sie das gewusst hätte. "Keiner gehört keinem, Bert. Das weißt du doch."

I want you back-


Say it isn't so.
Tears for certain there's no relief
I feel no better with wet cheeks.
And man I stand up to you
I feel it now...I do, and


Immer wieder hatte er den ganzen Nachmittag über die Probe X345082 herangeholt, war zum Fenster gegangen, hatte das Röhrchen gegen das Licht gehalten. Es war unübersehbar jetzt. Das silberne Haar. Wenn er es sah, dröhnte der Song in seinen Ohren:


So we break up, you leave my life


Leave, leave me alone, and
Man O'Sand to Girl O'Sea says it's love
Man O'Sand to Girl O'Sea says it's love


Er sah Anne tanzen, fühlte seine Angst, seine Hilflosigkeit, seine Wut. Das Haar. Das silberne Haar. Es ist nur e i n Haar, ein einziges. In allen anderen Proben des Tages kein weiteres Haar. Es verfälscht die Ergebnisse nicht, wenn er das Haar herauspickt, wegschafft, vernichtet. Bert saugt das Haar an, fischt es heraus, nur das Haar, alles andere bläst er zurück in die Probe.


You're the one, the one I need,


need in times
TIMES LIKE THESE.


Er hält sein Feuerzeug dran. Ein ekliger Geruch breitet sich aus, nur ganz kurz, ist sofort verflogen; das Haar hat nur Bruchteile von Sekunden geflackert, hinterlässt nicht mal wirklich Asche, winzige Krümel nur. Bert streicht sie von der Platte. Er verschließt die Probe X345082. Prüft mit einem Rundblick, ob alles seine Ordnung hat. Zieht seine Jacke über, schließt die Tür des Labors ab, tritt ins Freie. Er atmet tief durch.

Ja, es ist gut hier zu leben, in Neuglobsow am Stechlinsee. Hier ist die Luft frisch, keine Industrieabgase, kaum Autos. Er dreht sich um und verschließt die Außentür des Instituts.


MAN O´SAND TO GIRL O´SEA


SAYS ITS LOVE