20100307

ABFLUG ("Right here. Right here.")

16. November 2009, Flughafen Frankfurt am Main, Terminal 2, 22.53 (Central European Time CET) 

"Passagiere für den Flug Qantas Airlines 005 nach Sydney über Singapore bitte zum Gate 22. Passengers for Flight Q 005 to Sydney via Singapore..." Die Maschine startet um 23.05 CET. Ich werde fliegen. Mitten hinein fliegen in meine Hölle. Ich werde keine Rücksicht nehmen und keine Vernunft walten lassen und an niemanden denken, nur an meine Sucht, meine SEHN-Sucht nach Mr. Hell.

"Right here. Right here. I´m keeping you right here."

"Kann ich bitte Ihren Pass sehen?" Ich lege meinen Reisepass vor, in den seit dem 9. Oktober ein gültiges Reisevisum eingeheftet ist. Ich bin ausgestattet mit zwei Kreditkarten, auf Konten angemeldet, auf denen - nach Abzug der Kosten für die Flugtickets - noch exakt € 23.007, 45 gutgeschrieben sind. Es wird eine Weile reichen. "Du bist feige." Ich bin nicht allein, Mr. Hell. My sons. Nicht daran denken. Heute morgen habe ich es gewusst. Es geht nicht mehr. Ich verbrenne von innen.

Montag, der 16. November 2009, 4.35 CET in Neuglobsow am Stechlinsee. 14.35 ACST (Australian Central Standard Time). Mr. Hell liegt zwischen Bikinischönheiten am Bondi Beach. Ich zog am Posament. Das Wasser rauschte unter mir weg. Eigentlich war die Spülung überflüssig. Ich war aufgestanden, weil ich nicht länger mit offenen Augen liegen bleiben konnte, den schweren Körper des Bären neben mir. Die Zufriedenheit des unschuldigen Bären war das schleichende Gift, an dem ich erstickte.

Ich tappte zurück ins Zimmer, durch die Läden drang das Grau des frühen Novembermorgens. 4.53 Uhr zeigte der Wecker über dem Kopf des Bären. Ich griff die Jeans vom Stuhl, die Trainingsjacke, die Unterwäsche von gestern, egal. Ich musste raus. Der Bär schnaufte und wälzte sich auf die andere Seite. Im Flur zog ich mich fröstelnd an, die Laufschuhe standen vor der Eingangstür auf der Treppe. Rennen, wegrennen. Zum See.

Montag, der 16. November 2009, 5.30 CET. Der 7. Tag ohne Nachricht aus dem Höllenkreis. Ein weiteres Wochenende vergeblichen Wartens, der Versuche unauffällige Ausreden zu erfinden, warum der Rechner hochgefahren werden muss. "Ole wollte mir eine Mail schicken, ob wir in der nächsten Woche eine Sitzung haben." Dann schnell den geheimen e-mail-Account aufrufen, Skype, facebook - die Verbindungslinien zu Mr. Hell in die andere Welt, DOWN UNDER. Noch immer kein Post, kein Wort, kein Zeichen, nirgends. Letzte Nachricht vom 10. November 2009, 20.24 ACST: Tom Hell send you a message: "I´m fucking sick of thee." Halbdrei Uhr nachts in Neuglobsow am See. Dann nichts mehr. Tom Hell is offline.

Ich blieb online. Netz-Stalkerin auf der Suche nach Spuren von Mr. Hell. Nirgends ein Zeichen, dass Tom Hell online war, seit 10. November 2009, 2.24 CET. Anne B. send you a message: "I will - come. I will. Pls." November 10th 2009, 7.45 CET. Viertel vor sieben in Neuglobsow am Stechlinsee. Anne B. send you a message: "Where are you, T.H.?" November 10th 2009, 8.04 CET. Prime time in Darlinghurst. Are the Simpsons still on? Keine Antwort. Anne B. send you a message: "Pls. answer. Tom.", November 11 th 2009, 0:34 CET. Halbeins in Neuglobsow am Dalchowsee.

"Right here." - Die rauhe Decke auf der Gästeliege, deine Daumennägel ritzen rote Streifen in meine Haut. "I´m keeping you right here." Where have you gone, Mr. Hell? Ich wollte noch in die Erich-Weinert-Straße fahren, die Decke holen mit deinen Spermaspuren drauf. Mein Gastgeschenk für Deine Höhle dort unten. Deine Markierungen, Tomasz, Dein Geruch, den ich mitnehme und mitbringe, Dir da lasse, wenn Du mich vor die Tür setzt. Wirst Du mich vor die Tür stellen? "I´m fucking sick of thee, Annie."
Tausendmal habe ich den Text des letzten Chats analysiert. Was schriebst Du? Was schrieb ich? Wann schlug die Stimmung um? "We can´t be all tied down." "I´m not tied down." "Marriage is a prison." - "The boring book of love." Es schlief im Zimmer nebenan. Jede Nacht hörte ich die ruhigen Atemzüge des Bären. Er ahnte es. Aber er sagte nichts. Er wartete, dass es vorüber geht. Wie alles vorüber ging. Er blieb.

Am Seeufer flossen endlich die Tränen. Tomasz. Ich hatte auch nach deinem bürgerlichen Namen das Netz durchforstet. Kein Hinweis auf Tomasz Hosni seit April 2008. Dein Name aufgeführt in der Teilnehmerliste eines Deutschkurses am Goethe-Instituts Berlin. Kursleiter(in): N.N. Annie. Niemand sonst nennt mich Annie, Ännie, mit ä und langgezogenem i. Tomasz. In Berlin habe ich dich niemals Tom genannt. Tom Hell, der Höllenmann, der virtuelle JOKER, der mich vernichtet, der mir sagt: "Fuck you." Tomasz hätte das nie gesagt. Ach was, Tomasz hat das gesagt, mit anderen Worten, mit Taten, Tomasz hat das getan. Fuck you. Annie.

Zum Frühstück war ich zurück. Bert hatte den Buben die Pausenbrote schon gemacht. "Ich brauchte ein bisschen Frischluft." "Kein Problem." Bert küsste mich auf die Wange. Carl schlug den Sportteil auf: "Läuft Scheiße für die Hertha." "Die Hertha ist Scheiße." Die Gelegenheit ließ sich Daniel nicht entgehen. Schon waren sie mitten drin im Bruderzwist. Dann die übliche Hektik beim Aufbruch. Bert verabschiedete sich: "Und was steht bei dir heute auf dem Programm?" "Ich muss mein Seminar vorbereiten. Am besten fahre ich heute Nachmittag schon nach Berlin und übernachte in der Weinert-Straße. Ist das o.k.? Dann habe ich morgen nicht so viel Stress." "Klar. Wir kommen zurecht, weißt du doch." Er küsste mich. Die Tür schlug hinter ihm zu. Ich sah ihm nach, wie er den Schotterweg hinunterlief, nach links abbog, die wenigen Schritte durch den Wald zum Leibniz-Institut.

Ich rannte die Treppe hoch. Den Computer anwerfen, bitte, bitte, Mr. Hell, send me a message. 7 neue Nachrichten an annebarnhelm@web.de. Keine Nachricht für armgardbarby@googlemail.com. Tom Hell is offline. Tomasz Hosni was never online. Die Schreibtischschublade stand halboffen. Burgunderrot lugte der Reisepass hervor. Expedia. Ein Flug nach Sydney, Qantas: Abflug 16. November 2009, 23:20 FRA, Ankunft in Sydney um 6:25 am 18. November 2009. Ich wollte nur probieren, ob man wirklich noch für heute Nacht einen Flug buchen könnte. Dann ging es ganz schnell. Die Kreditkartennummer eingegeben, Geheimzahl, gebucht.

Ich habe einen Flug nach Sydney gebucht. Ich sitze im Zug nach Frankfurt am Main. Draußen gleitet die norddeutsche Tiefebene vorbei. Herr Hölle, ich komme. Ich beweise es: "I´m not tied down." Die Zeit hat nicht gereicht, um in der Weinert-Straße vorbeizufahren. Das Auto habe ich in Potsdam abgestellt. Kein Gastgeschenk für den Herrn der Hölle. Ich bringe nur mich. Ich habe keinen Rückflug gebucht. Aus der Hölle gibt es keine Wiederkehr.

Ankunft in Frankfurt/Hauptbahnhof um 19.44 Uhr. Ich greife nach meinem kleinen Boardcase. Ich werde kein Gepäck einzuchecken haben. In der Hölle wird alles neu sein. Aussie-Relaxed-Style: Converse-Treter, Shorts, Bikini-Oberteile. Frauen in meinem Alter sollten keinen Bikini tragen. Ich habe diese kurzen hellen Schwangerschaftstreifen an den Hüften, drei links, drei rechts. Ich trage Badeanzüge. Mr. Hell: "I hate California Girls." Und Bondi-Beach-Girls? Er hasst es, wenn ich von meinem Alter rede. "If anything else fails just blame the damn time space continuum." Oder von meinen Söhnen. "You´re a mother of beautiful sons. - I´m feeling sick." Ich komme, Mr. Hell.

Problemlos lassen sie mich durch die Kontrollen. Ich kaufe einen SPIEGEL. Auf dem Titel Robert Enke, der Fußballtorwart, der sich umgebracht hat. "Melancholia. It chooses the ones it wants." "But she´s beautiful, isn´t she?""Angel child."

Mein Mobile vibriert: "Flieg, Schwesterherz. Flieg. See you in Singapore. Melusine." Mir wird heiß, ich muss den Mantel aufknöpfen. MELUSINE. "Been fifteen years since we spoke. The wounds have healed on my throat."


"Passengers for flight Q 005 to Sydney via Singapore..." Ich stehe auf, hebe meinen kleinen schwarzen Koffer hoch, gehe auf das Gate zu. Das Mobile klingelt erneut, mit einer Hand fingere ich es aus der Manteltasche. Carl schreibt: "Kannst du mir Bd. 8 von Y. The Last Man mitbringen? Danke, Mama." Last Man. Der l e t z te Mann? Daniel. Carl. Bert. - My men. Anne. ABCD. Barnhelm.




Melusine, Melusine...

"Don´t know where I´m going,
don´t know where it´s flowing,
but I know it´s finding YOU."

"Ihre Bordkarte, bitte."

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