20100508

HAUS AM SEE (Let it go by)

05. November 2009  Neuglobsow am Stechlinsee, 12.55 Uhr (Central European Time CET)

Wenn ich Carl ansehe, fühle ich nun häufiger einen messerscharfen Schmerz in der Brust: mein Sohn, mein wunderschöner Sohn, dieser Gigant, den eine Kleine, den ich, gebar. Die schlaksigen Bewegungen hat er von Bert. Immer ziehen sie die Schultern ein wenig ein, manchmal aber den Nacken zierlich aufdrehend wie Wildkatzen. Dieser Kontrast ist so anziehend: das Riesige und das Zarte, die sich in dem Jungen vereinen, wie sie es in Bert taten, als er 1984 im November in seinen klobigen Stiefeln so bedeutend und abweisend durch die Mensa stakste, all die Blicke ignorierend, die ihm folgten, auch meine natürlich, dachte ich damals. Jemand sagte: "Da kommt d e r Barnhelm." D e r Barnhelm. Nur ich, so schien es, hatte den Namen noch nie gehört.

Heute Morgen waren wir allein, Carl und ich, und schlechter Laune. Bert war schon früh zum Institut für Limnologie hinüber gegangen. Daniel hatte bei einem Freund in Gransee übernachtet. "Hast du dein Bett aufgeschlagen?" Er verdrehte die Augen. "Shut up, Mum." "So redest du nicht mit mir!" Schon war ein schriller Ton in der Stimme. Er stand noch im T-Shirt da. "Willst du nix Wärmeres anziehen?" "Gib Ruhe." "Nicht in dem Ton, mein Herr." "Wo is´n mein gelber Kapuzenpullover?" "Ich wasche jeden Tag eine Maschine, Freundchen." "Was soll ich ´n dann anziehen, Lady?" "Ich hab´ dir gesagt: Nicht in dem Ton, hörst Du." Er drängelte sich an mir vorbei zum Küchentisch. "Nutella." "Glaubst du, ich stell es dir vor die Nase?" Er steckte seinen Ipod in die Radiostation und drehte den Volumenregler hoch:

Und die Welt hinter mir wird langsam klein.
Doch die Welt vor mir ist für mich gemacht!
Ich weiß: Sie wartet und ich hol sie ab!

„Was soll das? Ich hörte Deutschlandfunk.“ „Geh doch in die geriatrische Anstalt.“ „So nicht.“ Das war bereits ein Kreischen. Ich riss den Ipod aus der Station. Carl sprang auf. „Finger weg von meinem Ipod.“ „Was denn?“ Auf meiner Schulter saß das Kapuzineräffchen: Wie lächerlich, wie lächerlich. Jetzt gibt´s ´ne tolle Show. „Gib meinen Ipod her.“ Das eingebildete Äffchen lachte sich fast tot. Selbst dein Balg tanzt dir auf der Nase herum. Und Mr. Hell down under hat in jedem Arm ´ne andre. Ich warf den Ipod quer durch die Küche. Carl jaulte. „Du hast sie nicht mehr alle. Vollkommen bekloppt.“ Er bückte sich, um sein Gerät aufzusammeln. „Wenn der kaputt ist...“ Nicht ganz bei Trost. Ein Toast. Ein Toast. Das Äffchen tobte triumphierend. Hurra. Hurra. „Was dann? Schlägst du mich dann? “ Ich baute mich vor ihm auf, versuchte, ihm den Ipod aus der Hand zu schlagen. „Du spinnst total.“ „Wie redest du mit mir?“ „Wie du´s verdienst. Lass mich durch.“ Ich stellte mich zwischen ihn und die Tür. „Lass mich durch.“ „Nein. Entschuldige dich.“ „Wer hat denn hier Sachen geworfen, Madam? Entschuldige du dich.“ „Ich lass dich nicht durch.“

Wir stehen ganz dicht voreinander. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzuschauen. Wir schnauben wie aufgescheuchte Ratten. Beide. Er hat Berts Körperbau, aber meinen Jähzorn. Jetzt geht´s los. Das Äffchen hat seinen Spaß. „Lass mich durch.“ „Nein.“ Carl packt mich an beiden Schultern. Ich mache mich steif. „Nein.“ Seine rechte Faust ballt sich, er drückt zu, mit seinem ganzen Körpergewicht gegen meine Winzigkeit. Ich falle, knicke um und rutsche in die Ecke. Der Schock treibt mir die Tränen in die Augen. Carls Arm fällt herab. Ich bleibe aber nicht sprachlos: „Das war´s.“, kreische ich, „ Asozial.“ Es hat sich soviel angestaut. Jetzt heule ich das mal laut raus. „Du oder ich“, schreie ich. "Meinst du, das lasse ich mir gefallen?“ Ich stehe schon auf dem ersten Treppenabsatz, will hoch, ins Schlafzimmer, den Koffer vom Schrank reißen. Weg. Weg. Weg.

Carl hat noch kein Wort gesagt. Aber er ist mir zum Fuß der Treppe gefolgt. „Mama. Bitte. Es war ein Versehen.“ „Soll ich mich im eigenen Haus vor meinem eigenen Sohn fürchten?“ Im Schlafzimmer knalle ich die Tür hinter mir zu, schließe ab. Carl hämmert gegen die Tür. „Mach auf, Mum. Es tut mir leid.“ Ich lasse mich auf das Bett fallen, heule schon wieder ganz laut. Ich kann mich jetzt nicht beherrschen. Es ist alles zuviel. Diese Falle Neuglobsow, die doof-freundlichen Gespräche in der Kaufhalle, das geheuchelte Interesse für die Veranstaltungen im Stechlinseehaus („Wollen Sie nicht mal einen Vortrag halten, Frau Barnhelm? Sie geben doch Seminare an der Uni, oder?“), Mr. Hell und seine Verachtung. Am schlimmsten aber ist Berts Zufriedenheit. Nichts fehlt ihm hier. Er forscht, er liest, er geht spazieren. „Schön ist es in Neuglobsow am Stechlinsee. Ideal für die Kinder.“ In den Schlaf geweint habe ich mich in den ersten Wochen. „Aber sieh doch die herrliche Landschaft...“ Ich bin einsam, Bert. Die Lehraufträge, die Wohnung in der Weinertstraße; das waren Lichtblicke und zuletzt Tomasz...Aber durch ihn wurde am Ende alles noch viel schlimmer.

„Mum. Bitte. Ich muss zum Bus. Mach auf. Es tut mir leid.“ Carl rüttelte am Türknauf. Ich rührte mich nicht. „Mama. Ich muss gehen.“ Ich hörte, wie er die Treppe hinunter rumpelte. Ich sprang auf. „Wenn du jetzt einfach gehst, dann bin ich weg, wenn du zurückkommst.“ Carl schaute aus dem halbdunklen Treppenhaus hoch zu mir. Seine Augen glänzten feucht. „Mama.“ „Ich kann nicht mehr, Carl.“ Er rennt zu mir hoch, presst meinen Kopf an seine flache Brust, wir halten uns fest  und heulen jetzt beide, hemmungslos laut. Schließlich ziehe ich ihn vor den Spiegel im Flur. Unsere Augen sind rot, die Haut ist fleckig, die Nasen tropfen. Wirr hängen unsere Haare in die Gesichter. Carl legt seine Hand in meinen Nacken. „So kannst du dich nicht blicken lassen in der Kaufhalle.“ Er grinst mich im Spiegel an. „Du dich aber auch nicht in der Schule.“ Wir schauen uns quer über Bande an: 
Braunauge an Grünauge, Grünauge an Braunauge. 
(Hey, die Blauaugen sind ausgeflogen, hihi) 
„Wollen wir blau machen?“, frage ich.
Mütter sollten das nicht tun. Ach was. Jetzt nehmen wir uns das einfach. Wir gehen ins Schlafzimmer zurück. Carl lässt sich auf die linke Seite des Bettes fallen, Berts Seite, streckt den Arm aus, damit ich mich in seine Armbeuge legen kann. Wie sich alles verkehrt hat: In meiner Armbeuge hat das Kind gelegen, um Trost zu finden, wenn er sich angeschlagen hatte, wenn er gehänselt wurde, wenn ihm was schief gegangen war. Wollte ich ihn jetzt so in die Arme nehmen, dann wirkte es grotesk. Die Zwergin will den Riesen halten. „Scheiße, Mummy.“, sagt er und deutet auf den Koffer, den ich vom Schrank gerissen habe. „Willst du wirklich fort?“ Er fragt es nicht in einem Ton, der nur ein „Nein“ erlaubt. Er will eine Antwort. Zwischen Carl und mir geht das, was zwischen Bert und mir schon lange nicht mehr möglich ist. Bert bricht sowas ab, versperrt sich hinter Zärtlichkeit, im schlimmsten Fall geht er schlafen. Aber ich muss aufpassen, darf den Jungen nicht missbrauchen, darf ihm nur erzählen, was er wissen will.
„Ja, manchmal will ich fort.“ „Wohin?“ „Weiß nicht.“ „Ich versteh dich. Als ich im Sommer aus Chicago zurück gekommen bin, hatte ich auch das Gefühl hier zu ersticken.“ „Genau. Nichts scheint sich zu bewegen.“ „Außer dir.“, Carl lacht. Das ist ein Running Gag zwischen den Jungen: meine körperliche Unruhe, dieser Bewegungsdrang. „Rund um den See, jeden Tag. Die Yoga-Übungen. Das Rudern.“ „Tut mir gut.“
„Wenn ich das Abi in der Tasche habe nächstes Jahr, gehe ich wieder nach Chicago.“ Ich streiche ihm durchs Haar. „You´re hometown.“ „Dort bin ich geboren." „Wie geht´s Bo?“ Carl verzieht das Gesicht. „Sie schreibt, dass sie mit  einem Typen zum Konzert von Death cab for cuties geht.“ „Was für ein Typ?“ „Danny. Ich kenn den auch, er ist o.k. Trotzdem.“ „Davon musst du runter. Sonst geht das nicht mit so einer Fernbeziehung.“ „Klar.“ „Gefühle kannst du eh nicht kontrollieren.“ „Eben.“ „Deine auch nicht.“ „Ich liebe sie.“ Es ist schwer, als Mutter etwas dazu zu sagen. Ich nehme das ernst. Er fühlt das so. Aber – wie dauerhaft ist die Liebe eines 17jährigen? Er verteidigt sich schon, bevor ich etwas sage. „Du warst auch nur zwei Jahre älter, als du Papa kennengelernt hast.“ Das stimmt.
„Es wird schwer für dich, Mama, wenn ich nach Chicago gehe.“ Carl wusste das genau. Die Last, die ich ihm auflegte, ohne es zu wollen, ohne es verhindern zu können. „Ich will, dass du gehst. Wenn es das ist, was du willst. Weißt du doch.“ „Du schicktest mich sogar. Und es war die beste Entscheidung. Das war ein tolles Jahr.“ „Du wärest gerne dort geblieben.“ „Ja. Und Nein. Ich liebe dich, Mama.“ Ich drückte meinen Kopf in seine Armbeuge. „Das weiß ich. Ich liebe dich auch, Carl.“ Ich flüsterte es in seine Achselhöhle, man konnte es kaum hören. Chicago, windy city blues, mit meinem Baby im Arm unter dem Loop... „Erinnerst du dich noch an etwas aus der Zeit bevor wir nach Deutschland gingen, Carl?“ „Den Loop. Das Geräusch der Bahnen. Da bin ich zuhaus. “ Ich schließe die Augen. Mein Junge. Das Rattern der Züge. Der Mann, den ich nie treffen werde. Kein Mister Hell. Kein Bär. Doch für eine andere kann er es sein, die Hölle, die Resignation. Das kann ich nicht wissen.

Ein Frauenchor am Straßenrand, der für mich singt!
Ich lehne mich zurück und guck ins tiefe Blau,
schließ die Augen und lauf einfach geradeaus.
Und am Ende der Straße steht ein Haus am See.
Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg.
Ich hab 20 Kinder, meine Frau ist schön.

Carl rückte von mir ab, um mir in die Augen zu schauen. „Du weißt, dass es für Papa o.k. wäre, wenn du wieder in einer Band spielst.“ „Wie kommst du darauf?“ „Ich habe dich auf MySpace gehört mit der Band von dem Australier mit dem ungarischen Namen.“ „Wie bist du auf die ´Poor Heirs´ gestoßen?“ „Er hat mir von der Band erzählt. Als wir ihn im Herbst vor den Hackeschen Höfen getroffen haben. Nachdem du rein gegangen bist, um die Bären-T-Shirts für meine Cousins zu kaufen. Da hat er sie erwähnt.“ Tomasz hatte das absichtlich getan, diese Spur gelegt. „Und du hast mich erkannt?“ „Deine Stimme, klar. Spielst Du auch das Schlagzeug?“ „Ja.“ „Mann, Mama, das ist gar nicht schlecht.“ Ich stupste ihn in die Schulter. „Ich bin kein Mann. Und froh drüber.“ „Warum machst du so ein Geheimnis draus? Für Papa wäre das kein Problem.“
Bert würde nichts dazu sagen. Sein Schweigen verletzt mehr als es jeder lautstarke Streit könnte. Ich kann nicht einschätzen, ob es Selbstschutz ist oder Gleichgültigkeit. In Ordnung ist, dass seine Frau in Berlin ein paar Seminare gibt. In Ordnung ist, dass sie dort eine kleine Wohnung hat, für den Fall, dass es einmal früh anfängt oder spät endet. In Ordnung ist, dass sie Freunde hat, die er nicht kennt und nicht kennen will. Das ist alles in Ordnung. Es bleibt alles in der Ordnung, solange ich nicht darüber rede. Solange ich keine Unruhe stifte, solange ich nicht hoffe, dass er Anteil nimmt an dem Leben, das mich ausmacht, sondern mich immer wieder einfüge in sein Leben. Er glaubt, wenn er Ruhe gibt, komme ich immer zurück. 
„Was hat er noch erzählt, der Australier?“ War mein Tonfall falsch? Carl drehte mir den Rücken zu, während er aufstand: „Eigentlich nichts. Dass er dieses Stipendium hatte. Und dass er zurück gehen wollte nach Sydney.“
Carl ging ins Bad. Ich hörte das Wasser laufen. Er wusch sich. Dann rief er: „Willst du da hin? Nach Sydney?“ Ich antwortete nicht. Das Wasser lief weiter. Es wurde abgestellt. Carl stand in der Tür mit nassem Haar. Er wartete auf eine Antwort. Er hatte eine verdient. „Es ist eine tolle Stadt: ´Darlinghurst nights´ von den GoBetweens. ´I opened a notebook. It read the Darlinghurst years...“ Er fiel in den Refrain ein: "Gut rot cappucino, gut rot spaghetti, gut rot rock´n´roll through the eyes of Frank Brunetti. And always the traffic, always the lights. Joe played the cello through those Darlinghurst Nights." Dann stand ich auch auf.
Als ich mich in der Tür an ihm vorbei drücken wollte, griff er mir mit beiden Händen um die Taille, hob mich hoch, ließ mich oben zappeln. „Wie leicht das geht.“ „Lass mich runter.“ „Und wenn nicht?“ Wir lachten. Wir waren wieder im Alltag. Das ist ein Spiel, das wir oft spielen. Er setzte mich ab.„Vergiss nicht, mir eine Entschuldigung zu schreiben für heute.“ „Klar.“
– - - - Den Blauaugen erzählten wir nichts. Das brauchten wir uns nicht zu sagen.
Das Kapuzineräffchen feixte. Du bist vielleicht ´ne Mutter. Mütter tun das nicht. Was denn, verdammter Affe? Was denn: ich liebe den Jungen. Weißt du schon.

Anybody else, anybody else,
but I let it go by

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