20100322

HAAR IM SEE (Man O´Sand to Girl O´Sea)

Institut für Gewässerökologie, Abteilung Limnologie geschichteter Seen
Stechlinsee, 13. November 2009, 17.55 (Central European Time)

Bert saß am Labortisch, vor sich aufgereiht und nummeriert die Wasserproben des Tages. Den langen Oberkörper beugte er mit rundem Rücken nach vorne, die Schultern etwas zusammengezogen. Ungesunde Sitzhaltung, würde Anne sagen, kein Wunder, dass du Rückenprobleme hast. Sein Nacken war steif. Es schmerzte, mehr aber noch hinter der Stirn als an der Wirbelsäule. Das silberne Haar. Der Gesang in seinem Ohr. Er konnte sich nicht gerade halten. Für einen Moment presste er den Kopf auf die blanke Tischplatte. Dann riss er sich hoch. Das war ein Fehler. Der Schmerz kehrte mit doppelter Stärke zurück.

Gewässerprobe 11/13/2009-X345082. Nach der Mittagspause hatte er begonnen, die heutigen Proben zu analysieren. Probe X345082 war die dritte, die er unter dem Mikroskop betrachtete. Das Haar fiel ihm nicht sofort auf. Er schob mit der Pinzette ein Plankton beiseite. Da war es: Ein feines Haar, etwa 20 cm lang, silbrig schimmernd. Er schrieb es in den Katalog, verschloss die Probe, fuhr mit seiner Arbeit fort.

Doch es ging ihm nicht aus dem Kopf, das Haar. Der Schmerz begann exakt sieben Minuten, nachdem er die "Haarprobe", wie er sie nun schon nannte, wieder verschlossen hatte. Er durchsuchte die anderen Proben. Nur diese eine enthielt ein Haar. Er nahm die Probe erneut zur Hand, hob das Glas gegen das Fenster. Er konnte das feine Silberhaar jetzt mit bloßem Auge erkennen.

Die Musik, die verrauchte Kneipe, Anne, die den ganzen Abend Bier und Schnaps getrunken hatte, über den Tisch gelehnt, jedem tief in die Augen gesehen. Oh Gott, wie sie das konnte, jedem das Gefühl geben, dass sie nur ihm zuhörte, den Mund halb offen wie ein Kind, die Augen aufgerissen, jedes Wort aufsaugend, zwischendurch ein staunendes "Ja?", das einen noch weitertrieb. Er hatte rechts neben ihr gesessen, die Hand hinter ihrem Rücken an ihrem Hintern. Gerne hätte er ihr den Arm um die Schultern gelegt, aber er wusste, sie wollte das nicht. "Ich will mich bewegen können, wenn wir unterwegs sind. Du sollst mich dann nicht so festhalten. Halt mich jetzt." Manchmal strich er mit dem Daumen am Ansatz ihrer Wirbelsäule entlang. Aber sie war auf der Sitzbank weiter nach vorne gerückt, die Arme und Hände lang ausgestreckt, mal nach links zu Georg hin oder zu Stefan, mal nach rechts zu Katrin und ihnen gegenüber saß Toni, von dem sowieso jeder gewusst hatte, dass er Anne liebte. Jemand hatte Spring Hill Fair aufgelegt und Annes Körper begann zu vibrieren. Und bei d e m Lied dann kletterte sie auf den Tisch und bewegte sich langsam, schlangenartig, warf den Kopf zurück, die Lippen aufgerissen. "The Traffic Lights on the Street of Love have just turned red.. turned red and..." Alle konnten sie sehen und alle sahen sie und am liebsten hätte er sie runtergerissen. Aber er wusste, das hätte sie ihm nie verziehen.

Feel so sure of our love


I'll write a song about us breaking up.

Er zwang sich mit seiner Arbeit fortzufahren. Zwischendurch ging er mal rüber in sein Büro, führte ein paar Telefonate, spielte mit dem Foto auf seinem Schreibtisch: Anne und die Jungs im Garten beim Fussballspiel. Kein gestelltes Familienbild, das hatte sie nicht gewollt. So hatte er nun dieses Bild, man konnte sie kaum erkennen, sie stand halb mit dem Rücken zur Kamera, das Haar wirr im Gesicht, den Mund aufgerissen, den Ball spitz am Fuß. Anne, die nicht erwachsen werden will. Aber morgens wirft sie sich jetzt in ihre Stiftröcke, malt sich die Lippen und sieht aus wie eine Dame. Wer hätte das gedacht.



Man O'Sand to Girl O'Sea


Says it's love you'll get from me
Man O'Sand to Girl O'Sea
Says it's love you'll get from me

Toni starrte unverhohlen Anne unter den Rock, die wie in Trance tanzte. Am liebsten hätte er ihm eine reingehauen. Aber das konnte er nicht. Und Toni war ja auch völlig ungefährlich. Trotzdem: "Das ist meine Frau. Meine Frau. Meine Frau." Sie hätte ihn ausgelacht, wenn sie das gewusst hätte. "Keiner gehört keinem, Bert. Das weißt du doch."

I want you back-


Say it isn't so.
Tears for certain there's no relief
I feel no better with wet cheeks.
And man I stand up to you
I feel it now...I do, and


Immer wieder hatte er den ganzen Nachmittag über die Probe X345082 herangeholt, war zum Fenster gegangen, hatte das Röhrchen gegen das Licht gehalten. Es war unübersehbar jetzt. Das silberne Haar. Wenn er es sah, dröhnte der Song in seinen Ohren:


So we break up, you leave my life


Leave, leave me alone, and
Man O'Sand to Girl O'Sea says it's love
Man O'Sand to Girl O'Sea says it's love


Er sah Anne tanzen, fühlte seine Angst, seine Hilflosigkeit, seine Wut. Das Haar. Das silberne Haar. Es ist nur e i n Haar, ein einziges. In allen anderen Proben des Tages kein weiteres Haar. Es verfälscht die Ergebnisse nicht, wenn er das Haar herauspickt, wegschafft, vernichtet. Bert saugt das Haar an, fischt es heraus, nur das Haar, alles andere bläst er zurück in die Probe.


You're the one, the one I need,


need in times
TIMES LIKE THESE.


Er hält sein Feuerzeug dran. Ein ekliger Geruch breitet sich aus, nur ganz kurz, ist sofort verflogen; das Haar hat nur Bruchteile von Sekunden geflackert, hinterlässt nicht mal wirklich Asche, winzige Krümel nur. Bert streicht sie von der Platte. Er verschließt die Probe X345082. Prüft mit einem Rundblick, ob alles seine Ordnung hat. Zieht seine Jacke über, schließt die Tür des Labors ab, tritt ins Freie. Er atmet tief durch.

Ja, es ist gut hier zu leben, in Neuglobsow am Stechlinsee. Hier ist die Luft frisch, keine Industrieabgase, kaum Autos. Er dreht sich um und verschließt die Außentür des Instituts.


MAN O´SAND TO GIRL O´SEA


SAYS ITS LOVE