Neuglobsow am Stechlinsee, 29.
Juli 2009, 18.34 Uhr (MEZ)
Der See erholte sich, langsam,
kaum merklich. Die Armleuchteralgen kehrten zurück. Jene Vielfalt der Arten, die den See ausgezeichneten hatten, als sich der
alte Fontane den Weg mit Fackeln vom Ufer durch den Wald ausleuchten ließ, konnte zwar nicht vollständig wiederhergestellt. Immerhin aber war neues Gleichgewicht
erreicht worden, in dem zumindest die Fontane-Moräne überleben würde. Bert stellte die letzten Proben ordentlich markiert zurück an ihren Platz. Er
dokumentierte den Phosphor-Gehalt wie jeden Tag in der Liste, klappte die
Kladde zu und schob sie ins Regal. Dass er Zeit zu schinden versuchte, war ihm
klar, aber er wollte sich keine Rechenschaft über sein Verhalten ablegen. Er wusste,
wie wenig willkommen er auch heute Abend der Frau sein würde, die im Haus am
See auf ihn warten sollte.
Er wünschte, er hätte den Mut,
Anne zur Rede zu stellen. Aber ihm fehlte schon die Kraft, sich seinen eigenen
Zorn einzugestehen. Er dimmte ihn stattdessen herab auf eine erträgliche
Temperatur, lenkte sich ab, verdünnte das Unglück mit Geschäftigkeit, mit
Gartenarbeit und Autowaschen, mit Rudern auf dem See und unter dicken
Kopfhörern. Er wusste nicht, was schief gegangen war. Sie hatte sich von ihm entfernt,
glaubte er, mit dem Umzug an den See. Dass ihr Erkalten lange vorher begonnen
hatte, gerade so langsam voran geschritten war wie die Erwärmung des Sees durch
das Atomkraftwerk, die er untersuchte, verbarg er sich. Er ahnte bloß dunkel, wie das
Wiederauftauchen der Kreatur, an die er nicht glaubte und deren Gesang er doch
ständig zu hören meinte, des See-Weibs, das sie in sich trug, mit dieser
Erwärmung, dieser Vernichtung der natürlichen Lebensbedingungen, im Zusammenhang
stand. Immer öfter erinnerte er sich in den letzen Monaten schaudernd an die
wenigen Male, die sie ihm erlaubt hatte, ihre Mutter zu sehen. Diese grausig
entstellte Frau, von der sie behauptete, sie sei schön gewesen und stark, deren
Wahnsinn und Verwahrlosung ihn mehr erschreckt hatten, als er zugeben mochte.
War das doch erblich? Er wusste, dass dieser Gedanke allein einen Verrat
bedeutete, der nicht zu verzeihen war. Denn obwohl er Anne kaum verstand, war
ihm doch klar, welche Rolle sie ihm zugewiesen hatte von Anfang an: Aus dieser Tiefe hatte er sie empor
geholt, gelöst aus der Umschlingung dieser wilden Frau und zivilisiert. Sie
hatte eine Chance gesehen in ihm, die einzige, und er hatte sie vertan, wusste
aber nicht wie und warum. Er
suchte nach Begründungen, wollte
aber nicht auf den Grund hinabtauchen. Die Struktur seines Denkens in Ursachen
und Wirkungen konnte und mochte er nicht aufgeben. Seine Liebe zu Anne war beständig
und klar. Was er versprochen hatte, hielt er, wie immer schwer es
zwischenzeitlich geworden sein mochte. Er konnte sich keiner Schuld bewusst
werden und fühlte doch, dass sie ihm stumm etwas vorwarf.
Bert schaltete die Alarmanlage
ein, verschloss die Eingangstür und trat hinaus auf das umzäunte Gelände. Es
war schon längst Feierabend, die Kollegen gegangen, still und aufgeräumt lag
die Station im Wald. Er lauschte; fürchtete und hoffte den sonderbaren Gesang
wiederzuhören, der ihm die Ruhe raubte, der kaum vernehmbar vom See herüber scholl,
so verlockend und schauerlich, ihm den Abschied verkündend, den er nicht
wahrhaben wollte, den er zu vermeiden suchte, indem er auswich und Alltag
vorgaukelte, so gut er konnte. Glaubte sie tatsächlich, er sei blind, taub,
stumm? Glaubte sie, es fiel ihm nicht auf, wie sie sich zurecht machte, wenn
sie nach Berlin aufbrach, wie sie vor dem Spiegel die Lippen befeuchtete, wie
sie sich eincremte und mit der Hand durchs Haar fuhr? Wie sie am Telefon kurz
angebunden war und atemlos, wenn er sie mal in der Wohnung in der Weinertstr.
erwischte? Wie sie ihr Handy abstellte und unerreichbar war für Stunden?
Er erinnerte sich nicht. Er
wusste von nichts. Er war der betrogene Mann, der hoffte, solange er sich
unwissend stellte, könnte er die Entscheidung verhindern, ließe sich unwirklich
halten und machen, was anderswo geschah. Sie kam zurück. Sie kam doch immer
zurück an den See. Darauf vertraute er. Seine Söhne waren die ihren. Das hielt
sie. Und mehr. Sie gehörte zu ihm: Eine Vergangenheit, die zur einzigen
Gegenwart geworden war, die sie beide ertragen konnten. Wem sonst könnte sie
sich zumuten wie ihm in ihrer Verworrenheit und Verzweiflung, mit diesen
Ausrastern und Verfehlungen. Er hätte vielleicht einschreiten müssen. Es
belastete sein Gewissen gelegentlich, dass er die Kinder ihren Launen
ausgeliefert hatte. Früh schon hatte er sich damit getröstet, dass sie niemals
zu weit gehen würde, dass sie sich fing, wenn es nötig war. Darauf hatte er immer
vertraut oder vertrauen wollen, weil es zu anstrengend geworden
wäre, etwas anderes zu glauben.
Diese Sache, anders wollte er das nicht nennen, würde vorübergehen,
machte er sich vor. Es war doch immer weitergegangen. Selbst damals in Chicago,
als... Daran wollte er nicht denken. Auch das hatte sie alles falsch
verstanden. Sich Dinge eingebildet, die nicht geschahen. Er hatte geträumt, ja. Für kurze Zeit hatte er sich erlaubt, wenigsten hinter geschlossenen Lidern
noch einmal auf etwas anderes zu hoffen. Es war natürlich alles vergeblich
gewesen und Fantasie geblieben. Aber gerade das, ahnte er, warf sie ihm vor. Er
glaubte an die Ehe. An Verpflichtung und das Versprechen. „Das nennst du Liebe.“ Was sonst? Liebe hieß für ihn: bleiben. Oder
zumindest zurückkehren. Er war zurückgekehrt. Willentlich. Freiwillig. Sie
hatten nie darüber gesprochen. Weil es nichts zu besprechen gab. Ein jedes von
uns lebt noch ein anderes Leben innen drin, verborgen, stumm, leidenschaftlich.
Das hatten sie doch beide gewusst. Das muss man einander lassen. Er empfand das
Schweigen nicht als Qual, sondern als Notwendigkeit. Was nicht ausgesprochen
wurde, war auch nicht wahr. Er konnte fast alles mit sich selbst ausmachen,
bildete er sich ein.
Etwas zog ihn an diesem Abend ans
Ufer hinunter, obwohl er seine Ohren, wie er glaubte, genügend gegen den bösen
Gesang immunisiert hatte, der ihn quälte. Das hätte er niemals zugegeben, wie
sehr auch er in Einbildungen lebte. Kaum ein Hauch regte sich, die Hitze
brütete unter den verschatteten Wegen und still ruhte der See. Er lächelte. Es
gab da irgend so ein Gedicht, meinte er sich zu erinnern, das ging so oder so
ähnlich. Er las keine Gedichte. Diese Erinnerung musste aus seiner Schulzeit
stammen. Auf Annes Nachtisch lag immer Hölderlin. Früher hatte er manches Mal
darin geblättert. Hochtrabende Worte, die für ihn keinen Sinn ergaben. Die
Glätte der Wasseroberfläche machte ihn plötzlich zornig. Er hob einen Stein vom
Boden auf und warf ihn mit Schwung weit hinaus. Es platschte und spritzte, ein
paar feine Wellen kräuselten sich, die aber schnell verliefen und wieder war es
ruhig. „Und ich liebe dich doch.“,
das sagte er laut auf den See hinaus, trotzig beinahe, bevor er sich umwandte.
Im Flur polterte er ein wenig
herum mit seiner Tasche und machte absichtlich Lärm, als er seine Schuhe auszog
und ins Schuhregal stopfte. Anne sollte ihn hören und Zeit genug haben, sich
darauf einzustellen. Nichts fürchtete er mehr, als diesen Augenblick, wenn er
sie überraschte, wenn sie die Abwehr nicht mehr ganz verbergen konnte, bevor
sie sich ihm zuwandte. Er öffnete die Küchentür: „Alles klar?“ Sie kam ihm
einen Schritt entgegen und küsste ihn rasch auf die Wange, bevor er sie in den
Arm nehmen konnte, um sich sofort wieder herumzudrehen und geschäftig im Topf
zu rühren. „Du bist spät.“ Er trat hinter sie und hob den Deckel ein wenig
hoch. „Chili con carne.“ „Wir essen in einer halben Stunde.“, sagte sie. Er
verstand die Botschaft und verließ die Küche, um den Tisch im Esszimmer zu
decken. Der idyllische Blick auf den See. Man konnte nicht schöner wohnen.
Selbst das aber war zum Vorwurf geworden, glaubte er. „Ich liebe dich doch.“, dachte er, aber er sprach es nicht aus, auch
nicht, als sie hereinkam und den Topf auf den Tisch stellte. Es war sinnlos.