20131128

DER BETROGENE MANN ("Making love, making waves, not making sense")

Neuglobsow am Stechlinsee, 29. Juli 2009, 18.34 Uhr (MEZ)

Der See erholte sich, langsam, kaum merklich. Die Armleuchteralgen kehrten zurück. Jene Vielfalt der Arten, die den See ausgezeichneten hatten, als sich der alte Fontane den Weg mit Fackeln vom Ufer durch den Wald ausleuchten ließ, konnte zwar nicht vollständig wiederhergestellt. Immerhin aber war neues Gleichgewicht erreicht worden, in dem zumindest die Fontane-Moräne überleben würde. Bert stellte die letzten Proben ordentlich markiert zurück an ihren Platz. Er dokumentierte den Phosphor-Gehalt wie jeden Tag in der Liste, klappte die Kladde zu und schob sie ins Regal. Dass er Zeit zu schinden versuchte, war ihm klar, aber er wollte sich keine Rechenschaft über sein Verhalten ablegen. Er wusste, wie wenig willkommen er auch heute Abend der Frau sein würde, die im Haus am See  auf ihn warten sollte.

Er wünschte, er hätte den Mut, Anne zur Rede zu stellen. Aber ihm fehlte schon die Kraft, sich seinen eigenen Zorn einzugestehen. Er dimmte ihn stattdessen herab auf eine erträgliche Temperatur, lenkte sich ab, verdünnte das Unglück mit Geschäftigkeit, mit Gartenarbeit und Autowaschen, mit Rudern auf dem See und unter dicken Kopfhörern. Er wusste nicht, was schief gegangen war. Sie hatte sich von ihm entfernt, glaubte er, mit dem Umzug an den See. Dass ihr Erkalten lange vorher begonnen hatte, gerade so langsam voran geschritten war wie die Erwärmung des Sees durch das Atomkraftwerk, die er untersuchte, verbarg er sich. Er ahnte bloß dunkel, wie das Wiederauftauchen der Kreatur, an die er nicht glaubte und deren Gesang er doch ständig zu hören meinte, des See-Weibs, das sie in sich trug, mit dieser Erwärmung, dieser Vernichtung der natürlichen Lebensbedingungen, im Zusammenhang stand. Immer öfter erinnerte er sich in den letzen Monaten schaudernd an die wenigen Male, die sie ihm erlaubt hatte, ihre Mutter zu sehen. Diese grausig entstellte Frau, von der sie behauptete, sie sei schön gewesen und stark, deren Wahnsinn und Verwahrlosung ihn mehr erschreckt hatten, als er zugeben mochte. War das doch erblich? Er wusste, dass dieser Gedanke allein einen Verrat bedeutete, der nicht zu verzeihen war. Denn obwohl er Anne kaum verstand, war ihm doch klar, welche Rolle sie ihm zugewiesen hatte von Anfang an: Aus dieser Tiefe hatte er sie empor geholt, gelöst aus der Umschlingung dieser wilden Frau und zivilisiert. Sie hatte eine Chance gesehen in ihm, die einzige, und er hatte sie vertan, wusste aber nicht wie und warum. Er suchte nach Begründungen,  wollte aber nicht auf den Grund hinabtauchen. Die Struktur seines Denkens in Ursachen und Wirkungen konnte und mochte er nicht aufgeben. Seine Liebe zu Anne war beständig und klar. Was er versprochen hatte, hielt er, wie immer schwer es zwischenzeitlich geworden sein mochte. Er konnte sich keiner Schuld bewusst werden und fühlte doch, dass sie ihm stumm etwas vorwarf.

Bert schaltete die Alarmanlage ein, verschloss die Eingangstür und trat hinaus auf das umzäunte Gelände. Es war schon längst Feierabend, die Kollegen gegangen, still und aufgeräumt lag die Station im Wald. Er lauschte; fürchtete und hoffte den sonderbaren Gesang wiederzuhören, der ihm die Ruhe raubte, der kaum vernehmbar vom See herüber scholl, so verlockend und schauerlich, ihm den Abschied verkündend, den er nicht wahrhaben wollte, den er zu vermeiden suchte, indem er auswich und Alltag vorgaukelte, so gut er konnte. Glaubte sie tatsächlich, er sei blind, taub, stumm? Glaubte sie, es fiel ihm nicht auf, wie sie sich zurecht machte, wenn sie nach Berlin aufbrach, wie sie vor dem Spiegel die Lippen befeuchtete, wie sie sich eincremte und mit der Hand durchs Haar fuhr? Wie sie am Telefon kurz angebunden war und atemlos, wenn er sie mal in der Wohnung in der Weinertstr. erwischte? Wie sie ihr Handy abstellte und unerreichbar war für Stunden?

Er erinnerte sich nicht. Er wusste von nichts. Er war der betrogene Mann, der hoffte, solange er sich unwissend stellte, könnte er die Entscheidung verhindern, ließe sich unwirklich halten und machen, was anderswo geschah. Sie kam zurück. Sie kam doch immer zurück an den See. Darauf vertraute er. Seine Söhne waren die ihren. Das hielt sie. Und mehr. Sie gehörte zu ihm: Eine Vergangenheit, die zur einzigen Gegenwart geworden war, die sie beide ertragen konnten. Wem sonst könnte sie sich zumuten wie ihm in ihrer Verworrenheit und Verzweiflung, mit diesen Ausrastern und Verfehlungen. Er hätte vielleicht einschreiten müssen. Es belastete sein Gewissen gelegentlich, dass er die Kinder ihren Launen ausgeliefert hatte. Früh schon hatte er sich damit getröstet, dass sie niemals zu weit gehen würde, dass sie sich fing, wenn es nötig war. Darauf hatte er immer vertraut oder vertrauen wollen, weil es zu anstrengend geworden wäre, etwas anderes zu glauben.

Diese Sache, anders wollte er das nicht nennen, würde vorübergehen, machte er sich vor. Es war doch immer weitergegangen. Selbst damals in Chicago, als... Daran wollte er nicht denken. Auch das hatte sie alles falsch verstanden. Sich Dinge eingebildet, die nicht geschahen. Er hatte geträumt, ja. Für kurze Zeit hatte er sich erlaubt, wenigsten hinter geschlossenen Lidern noch einmal auf etwas anderes zu hoffen. Es war natürlich alles vergeblich gewesen und Fantasie geblieben. Aber gerade das, ahnte er, warf sie ihm vor. Er glaubte an die Ehe. An Verpflichtung und das Versprechen. „Das nennst du Liebe.“ Was sonst? Liebe hieß für ihn: bleiben. Oder zumindest zurückkehren. Er war zurückgekehrt. Willentlich. Freiwillig. Sie hatten nie darüber gesprochen. Weil es nichts zu besprechen gab. Ein jedes von uns lebt noch ein anderes Leben innen drin, verborgen, stumm, leidenschaftlich. Das hatten sie doch beide gewusst. Das muss man einander lassen. Er empfand das Schweigen nicht als Qual, sondern als Notwendigkeit. Was nicht ausgesprochen wurde, war auch nicht wahr. Er konnte fast alles mit sich selbst ausmachen, bildete er sich ein.

Etwas zog ihn an diesem Abend ans Ufer hinunter, obwohl er seine Ohren, wie er glaubte, genügend gegen den bösen Gesang immunisiert hatte, der ihn quälte. Das hätte er niemals zugegeben, wie sehr auch er in Einbildungen lebte. Kaum ein Hauch regte sich, die Hitze brütete unter den verschatteten Wegen und still ruhte der See. Er lächelte. Es gab da irgend so ein Gedicht, meinte er sich zu erinnern, das ging so oder so ähnlich. Er las keine Gedichte. Diese Erinnerung musste aus seiner Schulzeit stammen. Auf Annes Nachtisch lag immer Hölderlin. Früher hatte er manches Mal darin geblättert. Hochtrabende Worte, die für ihn keinen Sinn ergaben. Die Glätte der Wasseroberfläche machte ihn plötzlich zornig. Er hob einen Stein vom Boden auf und warf ihn mit Schwung weit hinaus. Es platschte und spritzte, ein paar feine Wellen kräuselten sich, die aber schnell verliefen und wieder war es ruhig. „Und ich liebe dich doch.“, das sagte er laut auf den See hinaus, trotzig beinahe, bevor er sich umwandte.


Im Flur polterte er ein wenig herum mit seiner Tasche und machte absichtlich Lärm, als er seine Schuhe auszog und ins Schuhregal stopfte. Anne sollte ihn hören und Zeit genug haben, sich darauf einzustellen. Nichts fürchtete er mehr, als diesen Augenblick, wenn er sie überraschte, wenn sie die Abwehr nicht mehr ganz verbergen konnte, bevor sie sich ihm zuwandte. Er öffnete die Küchentür: „Alles klar?“ Sie kam ihm einen Schritt entgegen und küsste ihn rasch auf die Wange, bevor er sie in den Arm nehmen konnte, um sich sofort wieder herumzudrehen und geschäftig im Topf zu rühren. „Du bist spät.“ Er trat hinter sie und hob den Deckel ein wenig hoch. „Chili con carne.“ „Wir essen in einer halben Stunde.“, sagte sie. Er verstand die Botschaft und verließ die Küche, um den Tisch im Esszimmer zu decken. Der idyllische Blick auf den See. Man konnte nicht schöner wohnen. Selbst das aber war zum Vorwurf geworden, glaubte er. „Ich liebe dich doch.“, dachte er, aber er sprach es nicht aus, auch nicht, als sie hereinkam und den Topf auf den Tisch stellte. Es war sinnlos.

20121029

WELLEN. ("Our tension and our tenderness")


Berlin 2. August 2009, 13.45 Uhr (MEZ)

Dass es mehr war als eine Affäre, ein Aufbäumen gegen das Altern, die Geilheit auf einen faltenlosen durchtrainierten  Körper, die Bestätigung der noch vorhandenen Attraktivität durch die zärtlichen Hände eines jungen Schönlings auf meinen Hüften, dass es mehr war; spürte ich nicht in unseren atemlosen Umarmungen oder wenn ich erschöpft neben Tomasz lag. Ich sah es nicht, wenn er sich erhob, um am Fenster eine Zigarette zu rauchen, eine makellose Silhouette hinter der gelben durchscheinenden Gardine. Ich sah es völlig unerwartet, als ich ihn in den Arkaden sitzen sah, von Weitem, vor einem Schnellrestaurant mit Karim, die Arme aufgestützt und den Kopf vorgeschoben, die wüste dunkle Haarlocke tief in die Augen fallend, die müde wirkten und traurig, während Karim, schmal und agil, mit beiden Händen gestikulierend auf ihn einredete. Da sah ich es, dass ich verloren war, dass ich mich nicht mehr befreien konnte von dieser Fesselung an einen Mann, der mir so fremd war und bleiben würde, an den ich aber schon gebunden war wie mit festen Tauen durch dieses Gefühl, das mich in diesem Moment erfasste oder dass ich in diesem Moment, als ich stehen blieb, als habe mich etwas plötzlich erschreckt, endlich erkannte: Ich liebte. Ich liebte diesen Mann, den ich aus der Distanz beobachtete, diesen Mann mit dem widersetzlichen Kinn und der ein wenig kindlichen Unterlippe, diesen Mann mit den wilden Augenbrauen und der zornigen Falte über der Stirn, diesen Mann, der an diesem Nachmittag wirkte, als habe er seit Tagen viel zu wenig geschlafen, der seine Hände gegen die Schläfen presste und seinen Freund zu ignorieren schien. Und den liebte ich auch schon, den Mann neben ihm mit der olivfarbenen Haut, dem kahlen Schädel, der scharf gebogenen Nase und den schmalen Lippen, der dem dunklen Grübler die Arme um die Schultern legte und ihn ein wenig rüttelte. Den liebte ich wie einen Sohn.

No matter what you say,
No matter what you do
I want to be the one and
Love is a Sign

Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Dieser letzte Gedanke erschütterte mich noch mehr als die Erkenntnis, wie sehr ich dem dunklen Tom verfallen war. Es war nach allen Maßstäben, die ich kannte, ein ungeheuerlicher Betrug, die Stärke dieses Gefühls für die beiden Fremden, ein Betrug an Mann und Kindern. Aber die Wahrheit war doch, dass diese neue Liebe der anderen, die ich über die Jahre gehegt und gelebt hatte, keinen Abbruch tat, dass sie nebeneinander in mir waren und ich weder die eine noch die andere in mir ersticken konnte.

Ich kannte Karim kaum. Aber wie sie da beieinander saßen vor ihren Hamburgern und ihren erkalteten Pommes auf den schmuddeligen Tabletts, wusste ich, dass sie zusammen gehörten und eine Frau, die den einen liebte, auch den anderen lieben musste und als Karim aufsah, sich umschaute und mich erkannte, sah ich: Er wusste es auch. Er winkte mich heran. Tomasz zuckte zur Begrüßung nur mit den Schultern. Aber Karim sprang auf und ergriff meine beiden Hände, um mich zu dem leeren Stuhl an ihrem Tisch zu ziehen. „Annie, happy to see you.“, sagte er und lächelte mir zu. Dabei flehten seine Augen mich an. Er liebte den Mann, den ich liebte, genauso sehr, wie ich den liebte. Nur anders. Und der Mann, den wir liebten, war krank vor Liebe, von unsere Liebe und der die ihm fehlte und immer fehlen würde. Das war so und da saßen wir drei und wussten es und Karim hielt meine Hand, bis er bemerkte, dass Tomasz auf unsere verschränkten Finger starrte. Erst da ließ er mich los. Das hatte alles höchstens eine Minute gedauert, aber ich hatte begriffen, was ich für Tomasz bedeutete und dass Karim uns helfen wollte, koste es, was es wolle.

Our tension and our tenderness
Wave after wave
Our tension and our tenderness

Die Liebe ist ein Zeichen und die Liebe zwischen Tomasz und mir war ein Zeichen unseres Unvermögens. Wir hatten beide, ein jedes auf seine Weise, in der Welt, in die wir gehörten, versagt. Wir hatten den Menschen, die uns liebten, misstraut und uns gegen sie verhärtet. Jetzt saßen wir hier und hatten einander gefunden, um unser Unheil vollkommen zu machen. Es war Karim, der um den Schmerz, den wir einander zufügen würden, wusste, aber der auch fühlte, dass wir um diese Liebe nicht herum kamen.

Wir sprachen über nichts anderes an diesem Nachmittag als über die Band und die Lieder, die Tomasz komponiert hatte und die Arrangements, die Karim vorschwebten. Aber unter der Oberfläche dieser freundlichen Gespräche breitete sich zwischen Karim und mir ein Einverständnis aus und umfing uns drei mit einer Sicherheit, die ich lange nicht mehr gefühlt hatte. Wenn Karims und meine Augen einander trafen, dann waren wir uns so vertraut, als hätten wir uns ein ganzes Leben gekannt. Wir hatten uns in den Arkaden getroffen, damit sie mir den Raum zeigen konnten, den sie gemietet hatten, um zu proben. Ich setzte mich ans Schlagzeug und spielte ein wenig mit den Trommelstöcken herum. „She can do.“, sagte Tomasz. Und Karim sagte: „I know.“ Es war lange her, dass ich zuletzt gespielt hatte, aber die Nervosität, die mich auf dem Weg in die Arkaden zu unserem Treffen begleitet hatte, war von mir abgefallen, seit ich in Karims Augen gesehen hatte. „She can do.“ Ich konnte es, weil ich es musste. Das hatte Karim mich wissen lassen und ich hatte verstanden. Wir fingen an und ich war gut und ich würde noch besser werden. Für Tomasz. Für Karim. Weil die Liebe ein Zeichen ist und keine das Recht hat, immer zu versagen.

20120915

MUTTERTIER ("Your turn, my turn")


Berlin, 15. August 2009, 18:12 (MEZ)

Das war nicht sein Land. Er vermisste den Sand. Er vermisste die Wellen gegen die Felsen. Er vermisste ein Board unter den Füßen und heiße Girls im Bikini. Märkische Erde ist doch sandig, sagte Annie. Bikinis trägt sie nicht mehr, sagte sie, seit sie die Söhne gebar und die madigen Streifen an den Hüften hatte. Aber das war keine Wüste mit Oasen, Berlin war eine schmuddelige Schlammpfütze. Alle Farben waren angegraut in diesem kühlen Norden. Es war Sommer und nichts glühte, nicht einmal der Asphalt. Nur er war erhitzt und rannte schwitzend durch die Stadt, nicht weil die Sonne auf ihn brannte, sondern weil er nicht wusste wohin, aber auch nicht still sitzen konnte, nicht in der schäbigen Wohnung, die er mit Karim teilte, nicht im Studio in den Garagen hinterm Ostbahnhof, wo er zwei Saiten seiner Gitarre zerrissen hatte. Sie ließ ihm keine Ruhe, diese Frau, die er nicht haben konnte und niemals gewollt hatte. Wer bist du, Annie, wenn du die Augen schließt? Wohin entgleitest du, wenn du dich unter mir durchdrückst und mir entschlüpfst? Was fühlst du, wenn du dein Kleid überstreifst und nur aus dem Handgelenk heraus ein wenig die Finger hebst, um zum Abschied ein Winken anzudeuten? „See you next week.“

Something involving a lie
Something between you and I
The light fades away
And the day turns to grey
And you say, say

Nächste Woche, Annie, nächste Woche sind sieben Tage, sieben Tage, die ich damit verbringe, mir in der S-Bahn Mädchen auszusuchen, schöne Mädchen, dunkelhaarige mit aparten Gesichtern, langbeinige Blondinen, zierliche, blasse Rotschöpfe, kühle Brünette, keine älter als zwanzig, mit langen Haaren, die ihnen über die Schultern fallen und mit Lippen, die sie zu einem ironischen Lächeln, schürzen, das sie mir schenken: „Geht was?“ Weißt du das eigentlich, Annie, weißt du, das, wie die Mädchen hinter mir her sind, immer schon? Nie habe ich Schwierigkeiten gehabt, eine zu finden, die mich mitnimmt. Ich gehöre nicht zu den Männern, die sich einbilden, sie könnten jede haben, aber ich kriege immer genug. Da ist was an mir, sagt Karim, was sie hinreißt, was Dunkles, Brodelndes. Ich brauche das nicht zu inszenieren, das ist einfach da, mein dickes widerspenstiges Haar, das ich wüst um den Kopf stehen lasse, die tiefliegenden Augen, vor allem die Falte über die Stirn, die mich älter und erfahrener macht, als ich bin. Sie wollen mich. Sie wollen diese Düsternis mit ihrer Heiterkeit erhellen. Sie wollen mich lachen machen, um mich dann zu verlassen. Denn das weißt du auch nicht, Annie, dass ich sie haben kann, aber keine halten. Du brauchst mich nicht zu bedauern, deswegen, denn ich habe das auch nie versucht. Mir reicht es sie zu erobern, sie hinzureißen und niederzuwerfen und ihr Glucksen zu hören an meinem Ohr, wenn sie sich ergießen. Das reicht mir. Die Zettel mit den Telefonnummern, die sie mir auf den Tisch legen oder in die Tasche stopfen, werfe ich immer gleich weg. So habe ich es in Sydney gehalten, so in Berlin. Ich sehne mich nicht nach Gesprächen mit ihnen, denn ich kann ihnen ohnehin nicht zuhören, weil ich auf ihren Ausschnitt starre und beobachte, wie die Spitze sich ein wenig herausschiebt, wenn sie sich vorbeugen oder in ihren rätselhaften blauen Augen versinke oder meine Hand über ihre Schenkel schiebe, wenn wir schon so weit sind. So habe ich es auch bei dir gemacht. Dennoch war es etwas anderes. Ich war mir sicher, wie ich mir immer sicher bin, wenn es um Frauen geht. Ich wusste, dass was geht. Aber ich ahnte auch, dass ich mich verstricken würde. Ich hatte dir schon zu lange gelauscht, Annie. Ich hatte mich an deine Stimme berauscht (die gar nichts Besonderes ist, wenn du nicht singst mit mir. Ich war deinem Blick ausgewichen, weil er mich traf. Dafür gibt es keine Erklärung und keinen Grund, denn du bist gar nicht mein Typ und niemand könnte mir nachsagen, dass ich auf ältere Frauen stehe. Wenn du fragen würdest, könnte dir jeder sagen, der mich gekannt hat, dass das abwegig ist.

Soft sure
As a knock on your door
Please say you´re there
Wait ,wasted
I´m here, I´m here
Lose it, yeah

„Ich könnte deine Mutter sein“, hatte sie gesagt beim letzten Mal danach, als sie sich von ihm weggedreht hatte, nachdem er sie bat: „Come with me. Let´s rock Bondi Beach.“ Du weißt nichts über meine Mutter und ich werde dir niemals etwas von ihr erzählen. Seine Mutter hatte ihn gehasst. Sie war ein Grab, aus dem er  geworfen worden war, zu seinem Glück. Das durfte sie nicht erfahren. Wenn sie wüsste, wer seine Mutter gewesen war, ließe sie ihn nie mehr herein. Er wolle von ihren Söhnen nichts wissen, beschwerte sie sich. Das tue ihr weh. Ich will nicht wissen, Annie, dass du eine Mutter bist. Er wollte nicht daran denken, dass sie Söhne hatte, denen sie das Grab schaufelte. Meine Mutter war eine Hexe und wohnte auf dem Grund des Meeres. Ihre Haare waren grün und ihr Gesang schauerlich. Sie riss ihr fauliges Maul auf, um mich zu verzehren. Ich habe ihr die Augen aus den Höhlen gerissen und die Zunge abgeschnitten, doch ihr starrer Blick verfolgt mich und ihr fürchterliches Gegröle schallt über die Ozeane bis ins märkische Flachland. Annie, ich will dich zu Tode küssen, denn wenn du den Mund öffnest, rieche ich das Meer.

Er stand auf der Brücke am Mühlendamm und spuckte in die Spree. Wohin fließt die Spree, Annie? Alle Flüsse münden im Meer. Seine Spucke für Bondi Beach. „CU next week.“ Eine Woche hat sieben Tage. Sieben Nächte. Sieben Mädchen. Eine Blondine im Mini-Rock stolzierte vom Nicolai-Viertel auf den Damm zu. Ihre rote Tasche wippt.e Ihre Hüften schwangen unter dem gestreiften Frotteestoff. Er spannte sein Gesäß an und schob das Kinn vor.

20120428

DRACHENWEIB (We took the wrong road)


Indian Ocean, 20. August 2009, 00:45 (IST Indian Standard Time)

Sie sucht mich an den Ufern, nicht länger ist sie im Trockenen. Still saß sie vor langer Zeit am See Ontario und früher einmal spuckte sie in den Wannsee. Sie scheute die Nässe und ließ meine Tränen nicht ihre Wangen benetzen. Sie blieb und steckte die Füße in hohe Schuhe, die schmerzten. Weit wurden ihre Pupillen vor Angst, wenn ich sanft Wellen ans Land schlagen ließ. Als ahnte sie schon, was kommen würde... Sie konzentrierte sich auf die Segelboote und lauschte dem Klang der Dampfschiffschlager. Sie tat, was sie konnte, um mich nicht zu hören. Nun aber steht sie in der Böschung, den Kopf zur Seite geneigt, das blonde Haar weht ihr aus dem Gesicht, die Nase schnuppert, die Ohren spitz wie die Brüste unter der Bluse. Sie lauscht. Dem Gesang der Sirene, die sie ist.

Lost all your letters when the ship sank
In the disjointed breaking light
The soft blue approach of the water
Makes a sound you won't forget

Wo warst du, Melusine? Ich war eine Haut ohne Schuppen, ein Fetzen trockenes Papier. Ich blutete nicht mehr  und stöhnte nicht und sang nicht gegen die Wellen. Wo warst du, Melusine? Ich war unter den teuren Erden, ich war ein roter Staub zwischen den Zehen, ich war die Asche unter den Hölzern. Wo warst du, Melusine? Am anderen Ende der Welt. Ans andere Ende der Welt, Schwester, hast du mich verbannt. Du vergaßt meinen Drachenleib und dachtest nur an den Fischschwanz. Wo warst du, Melusine? Ich breitete die Flügel des Drachen aus. Ich war ein Vogel im Baum, ein Schimmer zwischen den Büschen. Ich kannte mich nicht mehr, weil du mich verleugnetest. Wo warst du, Melusine? Ich fiel getroffen vom Stein aus dem Himmel vor seine Füße. Wo warst du, Melusine? Ich war gestorben, mein kleines Herz unter den Federn hatte aufgehört zu schlagen.

I took the Wrong Road round
Stranded at low-tide where the river bends
Wouldn't you know it, that's how life ends

Melusine, tat ich das? Wie bringe ich dich wieder zum Singen? Ozeane unter der platzenden Kruste, langsam wie Lava, zäh wie Brei, trieben dich fort? Erst der dunkle Ritter ließ dich erbeben. (Er ist es nicht.) Solange du dich verbargst, konnte ich nicht leben. Der salzige Geschmack in meinem Mund aus der Tiefe dieses Meeres, als du dich ihm öffnetest. (Er ist es nicht.) Aber er bohrte den Boden auf. Es rauschte in meinen Ohren dein Stöhnen. Sie kam zurück. Sie sang. Die Verräterin tauchte durch die Nacht.

Wie schrecklich bin ich, wie schön und wie traurig. Einer wird sterben. Wie ich starb, als ich ein Vogel war und du die Schlange. Wir nahmen den falschen Weg. 

20111012

ZERRÜTTUNG (So you stay inside...)

Neuglobsow, 25. August 2009, 16:42 CET (Central European Time)

Ich schaffte es gerade noch, mich am Küchenhocker festzuhalten. Wie die Schnitte an den bloßen Fußsohlen brennen. Die Zuckerdose ist mir aus den Händen geglitten, als ich nach ihr greifen wollte. Der Tee auf der Anrichte verdampft den tröstlichen Duft von Hagebutten. Ich kann die Tasse nicht erreichen von hier aus. Alles entgleitet mir in den letzten Tagen. Meine Finger sind oft wie taub, bis das sachte Kribbeln kommt, als seien sie eingeschlafen und wachten nur langsam wieder auf. Ich kann mit denen nicht mehr zupacken, nichts festhalten. So fing es auch bei Mama an. Ruhig, Anne, ganz ruhig. Ein Windhauch wie aus Engelsmund.

It rains for days
So you stay inside
And lock your door
Crying all the time
Crying for...

Ich hebe den linken Fuß an und ziehe die Sohle vor meine Augen. Auf dem Boden liegen die Kandisstücke. Die Dose ist heil geblieben, keine Scherben. Man schneidet sich nicht an Kandisstücken. Mir tut alles so weh. Ich blute, meine Füße bluten, ich kann nicht länger auf ihnen stehen, nicht weiter gehen, von hier aus nicht mehr. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich streiche mit dem Finger über die raue Fußfläche. Da ist kein Blut zu sehen. Meine Wunden bleiben unsichtbar. Mama! Bitte, Mama, puste! Was für ein böser Zauber das ist, dass keiner diese Schnitte sieht. Niemand wird mir glauben, wie weh mir das Gehen tut. Bert wird nicht einmal lachen, wenn ich ihm das erzähle. Bert darf nichts davon wissen.
Es gibt soviel, wovon Bert nicht wissen darf. Erst wenn er geht, atme ich auf. Jeden Morgen warte ich auf den Moment, wenn die Tür ins Schloss fällt. Dann fällt die Erstarrung ab, die hoffnungslose Müdigkeit, die mich befallen hat. Auch der heutige Tag fing damit an, dass er das Haus verließ und den Weg durch den Wald nahm zum Institut für Limnologie. Dass Bert den See erforscht. Bert wird nie etwas finden darin, was er sich nicht erklären kann. Eine Langzeitstudie geschichteter Seen, oh Bert, eine lange, so lange Zeit und doch: Der See wird sein Geheimnis nicht preisgeben, nicht an dich. All deine Wasserproben zeigen dir nicht, was hier geschieht. Ich musste raus. Rennen, um den See rennen, mich auslaufen, weglaufen vor dir und deinen Studien. Aber meine Füße trugen mich nicht ans Wasser. Ich war gefangen, deine Gefangene mit den zerschnittenen Füßen. Die liebenswürdige Zurückhaltung, diese elende Mäßigkeit mit der du mich erträgst, aushälst, behälst. Ich sehe in deinen Augen jetzt oft den Blick, den du auch auf Mama geworfen hast, meine schöne goldene Mutter.

Climb aboard my pony
Now you´ve been thrown
Get back in the saddle
And let it be known
That you´re made of steel

So gütig, sie hat dich gehasst dafür, sofort. Bevor wir gingen, zog sie mich beiseite: „Er ist es nicht. Ich habe ihn nicht gesehen dort unten.“ „Eben drum.“, sagte ich und schüttelte sie ab. Die Sehnsucht, hatte ich gedacht, ist an dich gebrandet und ausgespült, bei dir hat sie sich verlaufen wie in einem Delta. Ich habe mich treiben lassen. Du warst das Boot. Wer ein Boot hat, braucht nicht auf eigenen Füßen stehen. Das war der Deal. Die See, dachte ich, die See wird uns verbinden. Dabei sind es die Wasser, die uns trennen wie Ozeane die Kontinente. Du erforschst, ich tauche. Du hast nie etwas gehört dort unten, nur das Rauschen deines eigenen Bluts. Mein Blut ist kalt. Das weißt du nicht. Deine Vernunft ist nicht herzlos. Ich habe mich darauf verlassen.

Das Haus ist groß, aber es ist nicht mehr groß genug für uns, ich höre durch alle Wände, wenn Bert daheim ist, es ist alles durchdrungen von ihm. Das ist sein Leben, das war unser Leben, das Leben, das ich nicht mehr will, dass ich ihm gegen die Brust knallen, vor die Füße kotzen könnte, dieses Leben, das mich verstummen lässt, das mich erstickt, das mich schwer macht, so schwer, dass ich die Füße nicht mehr heben kann, dass jede Bewegung eine ungeheure Anstrengung ist, dass ich schnaufe, wenn ich mich nach den Zuckerstücken bücke, dass ich mich vor Schmerzen krümme, wie ich den Besen und die Schaufel hervor hole, dass mir die Luft wegbleibt, wenn ich mich beuge und kehre.

You walk around
With your eyes wide open
But you´re barely alive

Ich habe versucht mich leichter zu machen, damit mich diese Schwere nicht weiter hinunterzieht. Ich wiege nicht mal mehr 50kg, das habe ich geschafft. Ich mache keine Diät, aber ich habe Angst, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten kann, wenn ich Gewicht zulege. Das könnte sein, dass ich dann endgültig nicht mehr genügend Kraft habe, mich aufrecht zu halten. Ich will schwimmen, tauchen, absacken; du hast auf Mama immer nur mit Nachsicht geschaut; ich weiß das Bert, ich habe dich geliebt deswegen, aber ich sehne mich nach ihr, nach ihren Schlingen, weißt du, es ist dort unten nicht schauerlich, es ist so schön im grünen Licht.

Der dunkle Ritter kennt das Unten. Er weiß darum und hat es gesehen in mir, von Anfang an. Ich lecke aus seinem Nabel, nicht weil er flacher ist und seine Haut jünger als deine, ich lasse mich von ihm auf den Boden werfen, weil er weiß, wie es da ist, wo ich herkomme. Ich habe geschworen. Für immer und ewig. Meine schönen Söhne und deine. Meine Mühen siehst du nicht. Du glaubst, dass ich die Tage vertrödele. Und meine jämmerlichen Klagen. Ich schlüge mich, wär´ ich an deiner Stelle.

You say you´ve lost your touch
But don´t you think
That for once in your live
You should walk without a crutch?

Ich will es. Ich streife die Socken über und schlüpfe in die Schuhe. Es wird schon gehen, einen Fuß vor den anderen. Kein Blut auf dem Boden. Nur noch ein paar Zuckerstücke für das Pony.

20110806

MARKIERUNG (Please be kind)

Berlin, 1. September 2009, 6:41 CET (Central European Time)

Ein morgendlicher Lichtstrahl drang wie damals durch die Zeltgestänge von Yarramundi ins Zimmer und beleuchtete Annies Körper. Die Stoffbahnen der gelben Vorhänge spielten mit dem Wind und die Lichtpunkte, die der Staub aufwirbelte, tanzten auf ihrer Haut. Er staunte, wie vertraut ihm dieser Körper schon war, die schlanken Beine, die kleine Grube im rechten Knie, das sie an das linke angelehnt hatte, die Hüften, die breit entspannt auf dem Laken lagen, der Nabel, der als ein dünner Strich in den flachen Bauch geritzt war, das winzige Muttermal, wie zwischen ihre Brüste getippt. Tomasz berührte mit seinem Mittelfinger vorsichtig einen der weißen Streifen rings um ihre Hüften und zog dessen Form nach, die Biegung, die ihn an einen Notenschlüssel erinnerte.

Lord, I feel you made the hills
Watch them roll

„I am your Lord.“ Nie zuvor hatte er so zu einer Frau gesprochen. Wie erschrocken sie gewesen war, als er zum ersten Mal die Schwangerschaftsstreifen mit seinen Händen erkundet hatte. Da war ihm klar geworden, was er vorher nur geahnt hatte: dass Annies Körper in gewisser Weise jungfräulich war, ein Körper, den sie noch keinen, Millimeter für Millimeter, hatte berühren lassen, nicht einmal jenen Mann, mit dem sie gezeugt hatte. Es waren in und auf diesem Körper weiße Flecken zu entdecken, selbst ihrer Ureinwohnerin noch fremd. Tomasz war vorgedrungen in diese Wildnis wie ein Eroberer, ungestüm, alles grob aus dem Weg räumend, was seinen Ansturm behinderte. Aber später hatte er begonnen, sich in den Spuren der Schneisen, die er geschlagen hatte, zurückzubewegen, Schritt für Schritt und dieses unbekannte Land zu ertasten, zu erhören, zu erschmecken. Das hatte sie mehr geängstigt als sein Überfall: diese neue Gier, sie zu erkennen. Er hatte ihr gesagt: „I want to map your body out, inch by inch.“ Sie hatte die Luft angehalten, ganz fest war der Bauch unter seiner Hand geworden, er hatte sich schwerer gemacht, sich schließlich mit seinem ganzen Gewicht auf sie gestützt, bis sie Luft holen musste, ihre Bauchdecke sich hob. Seine Hand hatte diese Bewegung wie eine Welle aufgegriffen und war darauf geglitten, unter ihre Achsel, an ihre Kehle, hatte zugedrückt, gekniffen, gestreichelt, seine Lippen waren der Hand gefolgt, überall hin, auch seine Zunge. Es ging nicht, sie verstand das sofort, um Erregung, es ging um Preisgabe. Er wollte, dass sie sich ihm öffnete, lernte sich zu entspannen, weiterzuatmen, sich seinen Händen, seinen Lippen, seiner Zunge auszuliefern. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er sagte: „Look into my eyes.“ Und sie wurde rot vor Scham, weil sie sich so sehr danach sehnte, von ihm entdeckt zu werden und weil er das sehen konnte.

I´ve seen the promised land
And that is all.

Wie zweidimensionale weiße Maden lagen die Streifen auf ihren Hüften, derentwegen sie so verlegen gewesen war. Tomasz begriff, während sein Finger einen nach dem anderen dieser Streifen nachfuhr,  dass es gerade auch diese unschönen Streifen waren, die ihn an sie banden. Es berührte ihn etwas an dieser unscheinbaren Entstellung: dass sie besessen worden war auf eine Weise, auf die er sie nie besitzen würde. Sie markierten die unstillbare Sehnsucht, die schließlich alle Gier, mit der er sich auf sie warf, in verzweifelte Zärtlichkeit wandelte.

Please be kind
Please be kind

Es war der letzte Tag im Sommercamp von Yarramundi gewesen, an dem er den Vogel tötete. Als seine Eltern aus dem Wagen stiegen, schrien die Jungen: „Tomasz hat den Kookaburra getroffen.“ Sein Vater, weißhaarig, aber bemüht, kumpelhaft zu wirken, hatte ihn abgeklatscht, als hätte er eine Heldentat vollbracht. Tomasz suchte die Augen seiner Mutter, die im Wagen sitzen geblieben war. Doch sie nahm die Sonnenbrille nicht ab. Als sie ausstieg, sah sie nicht mal zu ihm hin. Stumm öffnete sie die hintere Tür und setzte sich auf die Rückbank. Sein Vater zuckte die Achseln. „Nach Hause, Tomasz?“ Auf dem Beifahrersitz neben seinem Vater blickte er starr nach vorn durch die Windschutzscheibe und kämpfte darum, die Tränen zurückzuhalten. Er schaltete das Radio ein. Ein Kinderchor sang „Kookaburra sits in the old oak tree...“ und er hörte seine Mutter hinter sich mitsummen.

Please be kind
Please be kind

Tomasz fing die salzige Träne mit der Zunge auf, bevor sie auf Annies Schulter fallen konnte. „Falling in love“, er hatte das nicht für möglich gehalten, dass ein solcher Sog entstehen könnte, als ginge er unter. Er wollte das nicht. Es war unmöglich, das zu wollen: eine verheiratete Frau, die alt war und nicht außergewöhnlich schön, eine verdammte Mutter vor allem, die dauernd von ihren Söhnen sprach. Er hasste das. Aber genau das war ihm passiert. Er hatte gedacht, es sei eine sportliche Herausforderung, die er sich stellte: Verführe die Unnahbare, leg die Alte flach! Tatsächlich hatte er sich von Anfang an etwas vorgemacht. Das wusste er jetzt. Er hatte ihre Hände beobachtet, wie sie durch die Luft flatterten, wenn sie redete vor dem Kurs. Dass er so auf sie gesehen hatte, während er „Ich, Du, Er/Sie/Es“ von ihr lernen sollte, das hätte ihn warnen können. Wenn einer geil ist, schaut er einer Frau auf die Brüste oder die Beine. Wenn er sich verguckt, .... Man denkt, man schaut in die Augen. Aber sie war seinem Augenblick immer ausgewichen und er hatte nicht versucht, ihn zu fixieren. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen und obwohl sie nie nach ihm hin sah, war er sich sicher, dass sie sich für ihn bewegte, so. Sie hatten sich nicht angesehen, wochenlang, schien ihm, und dennoch hatte er da schon kaum an etwas anderes gedacht, als an sie.

The old way out
Is now the new way in

Sie war die Ältere, aber er war der Erfahrene. Sie wusste viel, aber er konnte sie beherrschen. War es ihm darum gegangen? Er hatte sich auch das eine ganze Weile eingeredet. In Wirklichkeit aber, so fühlte er, als er behutsam seinen Körper ganz eng an den ihren schmiegte, hatte sie die Gewalt über ihn gehabt und immer behalten. Er sehnte sich nach ihr, weil er sie nicht haben konnte, er war verrückt danach, sie den Verstand verlieren zu lassen, weil er wusste, dass sie sich am Ende wieder im Griff hatte, während er immer nur liegen bleiben wollte neben ihr. Wenn sie aufwachte, würde sie ihre Sachen zusammenpacken und gehen. Nach Hause. Verdammt.

I see that life
But it won´t begin.

20110416

Heiße Zelle (The Old Way Out)

Neuglobsow, 13. September 2009, 5:06 CET(Central European Time)

The Old Way Out is now the new way in.

Der See strahlte. Er schien aus tiefer Dunkelheit die Stille zu verstrahlen, nach der ich mich so vergeblich sehnte. Brachtest du mich darum in diesen Landstrich, mein Mann? Damit ich endlich jene Gelassenheit finde, um derentwillen ich mich an dich schmiegte und in dein Leben fügte? Doch schon Fontane schrieb, dass diese Tiefe sich von altersher den Hang nach Menschenopfern bewahrt hat. Und so höre ich, wann immer ich ans Ufer trete, im leichten Schlag der Wellen das „Komm, komm, komm“ der Schwester, die ich ertränkte.

Wieder einmal hatte ich mich davon geschlichen, aus dem Bett und dem Haus, in die Morgendämmerung, an den See, weg von deiner Nähe, die mich umfängt und fesselt. Was treibt mich wohin? Zum See hinunter ging ich noch gemessenen Schritts, doch meine Gedanken stürzten sich schon fort ins Wasser, trieben wie Ertrinkende unter den Algen: Dort unten lebt sie fort, die Andere, die sich hergibt, die sich in Berlin von dem dunklen Ritter überwältigen ließ, die sich fürchtete vor der gewaltsamen Öffnung ihres Körpers und sich doch immer wieder in seine Nähe drängte, ihm die Türe öffnete, den Schlüssel übergab, sich überfallen und auf das ungemachte Bett werfen ließ von dem. Tom Tom. Du ahnst es vielleicht, beschweigst, beschwörst die Stille, den See, das beschauliche Leben und begreifst nicht, dass es von daher kommt: das Sehnen, das Aufbegehren, die Hitze. Denn still liegt da der See, so grün, so blau, so besonnt. Doch unter der Oberfläche rumort es.

Please be kind
Please be kind

Ich rannte die lange Schleife vorbei am Institut für Limnologie. Keine Menschenseele so früh unterwegs, nur ein paar aufgeschreckte Vögel erhoben sich über dem Wasser. Das Tempo drosseln, sagte ich mir, doch konnte ich mich nicht bremsen, ich musste dies sündige Sehnen, herauslaufen, keuchend am Ende des Laufes zusammensinken, um jenes andere Keuchen vergessen zu machen, an Tomasz Ohr, die Nägel tief in seinen Rücken gebohrt, die Erschöpfung, die keinen Frieden brachte, der Wille nach mehr, mehr, mehr...

Still lag der See und still das Kernkraftwerk, außer Betrieb seit 1990, im Rückbau seit 1995. Es soll  wieder grün werden hier, überwuchert die Flächen von märkischem Sand, Efeu und Birke, doch noch stehen die Hallen, die Sperrzäune. Hier findet der weltweit erste Versuch statt, ein Atomkraftwerk vollständig wieder vom Boden der Erde zu tilgen. In Wahrheit geht es nur um Verschiebung. In jenem Sommer, in dem wir an den See zogen, wurde der Reaktordruckbehälter von hier nach Lubmin verbracht. Es gibt keine „Endlager“, keine Sicherheit, keine Entsorgung, nichts verschwindet ohne Spuren. Die Ruhe ist trügerisch und der See weiß es. Und die im See. Und ich. Es bleibt die heiße Zelle, in der die strahlendem Substanzen reagieren. Auch die, so behauptet man, werde nun abgebaut, doch ahne ich: sie strahlt weiter. Der ruhiggestellte See wird anzeigen, wenn sie anderswo rumort. Wie ich. Wie ich anderswo unseren Frieden verrate. Wie ich dich betrüge anderswo, mit dem, der die Ruhe verachtet. Der See, schrieb der Alte, ist launisch. Doch so stimmt es nicht: Der See birgt die Wahrheit und die ist nicht schön und still und gut.

Ich rannte. Mir die Seele aus dem Leib. Wandte den Blick vom See, in dessen Antlitz sich immerzu das Gesicht des dunklen Ritters spiegelte, den ich doch laufend zu vergessen versuchte. Ich werde ein Unglück ertrotzen, der Rückbau ist missglückt.

Über dem Hausfirst ging die Sonne auf, als ich den See umrundet hatte. Die Beine fühlten sich schwer an. Der Atem ging stoßweise. Es schäumt und wogt und greift an, kreischt und kräht. Kein Hahn. In mir. Melusine. Trommle ich hinaus. Übermorgen. Dein Lied: TRAIN SPACE.

Ich schloss auf und schlich mich ins Bad, um zu duschen.

Lord above you filled the sea, watch it roll.
At your last port of call
You weren´t saved.

20110313

SESSION (I´d dive for your memory)

Berlin, 16. September 2009, 21.12 Uhr (CET, Central European Time)


If the cliff were any closer
If the water wasn´t so bad
I´d dive for your memory
On the rocks and sands

Tomasz drehte den Regler auf: comecomecomecomecomecome. Annies und Karims Stimmen, die sich antrieben, eins wurden, sind: sie kommen, sie fahren in einem Zug, WIR. Karim in TRAIN SPACE gelangt hinein in Annie, verschmilzt mit ihr, so wie er, wie Tomasz es ersehnt, begehrt, wenn er sie in vergewaltigender Umarmung gegen die Wand drängt, in sie stößt, wenn er sie keuchend auf der Liege begattet, so gierig, so gewalttätig, so hilflos, weil er nie ankommt, sie nie erreicht, weil sie, egal wie tief sich ihre Nägel in seinen Rücken graben, wie laut sie schreit, doch immer die bleibt, die er nicht findet, nicht kennt, nicht versteht, weil sie, wenn sie ihm verwundet in die Augen aufschaut, ihm so fremd ist, dass er sie schlagen möchte: Annie, Annie, Annie – wer bist du? Sie hebt die Hand, sie will seine Wange streicheln, sie sieht seinen Blick, sie senkt die Lider, sie verbirgt sich hinter den Wimpernschlägen. Annie. Fuck you.

Karim hatte in der Tür des Hinterhofstudios gelehnt, erschöpft, sich eine Zigarette angezündet, den Kopf zurückgelehnt und Annie zugeschaut, die ihren Rucksack aufsetzte. Verschwitzt waren sie gewesen, die T-Shirts an den Rücken nass, die Haare verstrubbelt, als hätten sie miteinander getrieben, was Annie und er, Tomasz, letzte Nacht tatsächlich getan hatten. Ahnte Karim es? Tomasz war sich nicht sicher. Doch, dachte er, er kennt mich gut genug, er weiß es. Als Annie gegangen war, hob Karim den Kopf: „Great. She´s unbelievable. Greatest session I´ve ever had.“ Tomasz nickte. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte dem Freund die Faust ins Gesicht geschlagen. TRAIN SPACE. Karim hatte Recht. So etwas hatten sie noch nie eingespielt. Was zwischen Karim und Annie geschehen war, das Treiben, das Finden, die Lust, die Fahrt, die Trommelwirbel, die Bässe, das Anrufen und Widerrufen, die Echos und schließlich die Verschmelzung der Stimmen, das Ausklingen des Räderwerks, die endliche Beglückung – der Song hatte alles in sich aufgenommen, in diese Aufnahme gesogen, die genial war, das wusste Tomasz. Es war sein Song, ein guter Song, melodiös und schräg zugleich, verspielt am Anfang, dann hektisch, Rhythmen variierend, Beschleunigung, Refrain, Ausklang. Aber so wie Karim und Annie ihn  gespielt hatten, konnte er nie wieder gespielt werden. Das war unwiederholbar. Er hatte es aufs Band fixiert, dieser Moment war verewigt, bleibend gemacht durch seine, Tomasz, Technik. Er hatte die Frau, die er liebte, um eines Liedes willen an einen anderen vergeben. An Karim, der den Vogel singen hörte. „There was the kookaburra and you heard him sing my songs.“

I´d dive for you
Like a bird I´d descend
Deep down I´m lonely
And I miss my friend

Karim wusste sofort, wovon er sprach. Jener Sommer im Outback lag zwanzig Jahre zurück. Karim hatte den Vogel lachen hören und Tomasz´ Stein hatte ihn vom Ast geschleudert. „You killed it...“ Karim drückte seine Zigarette aus und packte ein. „It´s her. It´s Annie. You´re gonna hurt her, too, Tomasz.“ Tomasz antwortete nicht. Was sah er in Annie? Das Unberührbare, das er immer schon hatte besitzen wollen. Aber sie ließ sich nicht nehmen, egal, wie sehr er sie sich unterwarf. Sie wollte aufgenommen sein. Und Karim hatte es getan. Karim verwirklichte, was er, Tomasz, erfand: Das war der Pakt. Comecomecomecomcomecomecome. Annie war hineingeraten in dieses Spiel: Himmel und Hölle. Engel und Teufel.  Fuck you, Annie.

Now, I dive black waters
The waters of her dream
Are black and forgetful
I´d like to make them clean

20110224

BECKENSCHLÄGE (A town without trains has brought you home again)

Indian Ocean, 18. September 2009, 00:35 (IST Indian Standard Time)

A town without trains
He runs to meet you

Du schlägst das Becken, Schwester. CRASH. Du schlägst, die Stäbe wirbeln, hinauf, hierüber, Hi Hat, Tom tom, TRAIN SPACE, comecomecomecomcomecome. Der singt mit dir, der schnellt sich ein, dir zu. Vereint: die Sehnsucht ohne Grenze zu sein. Du warfst dich dem dunkeln Ritter Tom zu Füßen. Doch ist es am Ende Karim. Der Knabe, der den Vogel entdeckte, damals im Outback. Du weißt von nichts. Ich sah die Jungen dort draußen: Tomasz und Karim. Einer schoss, ehe ich fiel, - und einer nicht. Vergessen wie ich dort hinkam. Fast wäre ich ausgetrocknet zu jener Zeit, denn du lebtest fern der Seen. Be my nightmare. Während ich mich wälzte vor denen, knöpftest du dich zu und wandeltest dich dem Sohnesvater an...

And I've grown to accept
that people know the next steps

TRAIN SPACE. Wir wuchsen auf unter den Zügen, die ans Meer zogen. Wir lagen und fühlten das Rauschen, das Rollen, den ungeheuerlichen Lärm, die Geschwindigkeit, das Beben, wir tauchten in die Tiefen. Keiner war dort unten gewesen, nur das verschwimmende Bild, das wir wogend erschufen in der Dunkelheit. Der Herr der Hölle: Tom Hell, dachten wir. Unser Alptraum. Der Traum-Mann. Ein fürchterlicher Irrtum, Armgard. Du Schwester, stießest mich in die Tiefe, als es gefährlich wurde. Doch so entkamst du ihm nicht...

Upstream and our stars
under one sky

Immer dachte ich meine Wunden wären der Preis. Be my nightmare. Es schien, als sei er gekommen. Das Kind im Mann, dem wir verfielen. Doch du schlugst und sangst und schlugst und sankst. Das Gold-Auge des sanften Narren, das Beben im Becken, die Schläge, die Stäbe, das Singen, deins, seins, meins, eins. Karim, also. Doch er, nicht der Höllen-Mann. Seine Hände berührten dich nie. CRASH. Sein Riff: Comecomecomecomecomecome. Der ist kein Spieler. Er spielt uns ein Leben: Du kommst ihm entgegen, er dir, ihr seid, die fahren, die rasen ins Meer, da ist das Delta, verströmen wir uns.

A town without trains
has brought you home again

Tom tom. Er wird sich rächen, der düstere Prinz. Ahnst du es schon? Ich reiche ihnen die Messer und löse meine Strümpfe. Die bloßen Fußsohlen strecke ich ihnen entgegen. Mein Opfer, um dich zu retten. Singapore. Kein Ring für Melusine. comecomecomecomecomecome.

Tauchgang. Blutspur im Meer.

Armgard. Meine.....

Schwester!

20110202

ES KRÄHT KEIN HAHN (Quiet heart)

Neuglobsow am Stechlinsee, 25. September 2009, 17.32 CET (Central European Time)

Some place I don´t know
Doesn´t matter how far you come
You´ve always to go further

Habe ich an deiner Brust vor Sonnenaufgang nicht noch gestern gefleht: „Bleib“?“ Dabei warf ich dich eine Stunde später aus der Weinertstraße raus. Jetzt drücke ich mein Kreuz gegen den Türstock und atme lang aus. Doppelt so lang ausatmen wie einatmen, heißt es, um ruhig zu werden. Auf keinen Fall hyperventillieren, sage ich mir. Ich bin nicht gerannt, ganz vorsichtig habe ich einen Fuß vor den anderen gesetzt. Eine Frau, die sich im Griff hat, so bin ich gegangen vom Ortseingang her, wo Karims Blut auf den Gehweg gespritzt ist, zurück zum Haus am See.

Ich kam vom Fontane-Haus her, als ich die Sirenen heulen hörte. Hier passiert kaum was, da schaut man schon mal nach. Ulla rief: „Es ist einer gegen einen Baum geknallt.“ Hier sind immer die Alleen-Bäume schuld, wenn ein Unglück geschieht. Das Blaulicht des Rettungswagens blinkte schon still, als ich dich in deiner Lederkluft neben dem verdrehten Körper stehen sah. Zu retten war da nichts mehr. Diese Schulterpartie erkannte ich zweifelsfrei, noch bevor du dich umdrehtest: Der dunkle Ritter am See. Unter dem Helm zu deinen Füßen lugten die schwarzen Locken hervor. Karim. TRAIN SPACE. comecomecomecomecome. Du brachtest ihn her. Weil ich mit ihm sang? Was wolltest du am See? Bei mir? Mit Karim? Mit Karim. Als du mich sahst, ließt du dich auf die Knie sinken und umklammertest meine Beine. Starr hielt ich mich gerade. Und Ulla, die sich alles erklärte: „Der Junge hat einen Schock.“ Meine Hand in deinem Harr. (Tausendmal zersaust. Meine Lippen auf deinem Scheitel).

Ich drückte die Knie durch. „Sind Sie in Ordnung?“ Du schaust auf und glaubst nicht, was du siehst. Ich kenne ihn nicht, sagen meine Augen, mein Mund, meine Stirn. „Mein Gott, der ist ganz verstört.“ Ulla bückt sich neben meinem Geliebten nieder. Ich möchte schreien: „Karim ist tot.“ Mörder sind wir. Tomasz, du und ich. Es schreit und schreit. Doch ich bleibe stumm und kalt. Ich kenne dich nicht. „Annie...“ „Bitte.“ Die Rettungssanitäter tanzen um die Leiche mit ihrer Trage. Sein Helm wird abgenommen, Gehirnmasse fließt auf das Trottoir. Karim? Karim. Dein Kinn an meinem Knie. Ich lege eine Hand auf deine Schulter und beuge mich ein wenig vor. „Kommen Sie...“ „Annie...“ „Bitte.“ Eh der Hahn kräht, hab ich dich dreimal verraten. Als er aufsteht, endlich, ist es vorbei. Dass ich dich liebe, habe ich nie gesagt.

I try to tell you
I can only say when we´re apart
About this storm inside me
And how I miss your
Quiet, quiet heart

Das hier war Tabu. Neuglobsow am See. Meine Familie Jemand musste dafür büßen. Die Melusine in den Meeren. Aber warum Karim? Wenn es dich getroffen hätte, das wäre gerecht gewesen. Hast du nicht die Ordnung der Welt ins Wanken gebracht, als du dich in mich versenktest? Singend kam er mir näher als du je, wenn du in mich stießest. Wir waren einen Moment, was du von mir willst: vereint. Konntest du das nicht vergeben? Wer bist du, Tom Hell?„Be my nightmare.“ Jetzt werde ich dich nie mehr los. War das der Plan?

Der Rettungswagen fuhr davon. Das verwaiste Motorrad lehnte an der Platane. Am Boden trockneten Blut und Sekret. Ich ging nach Hause. Ganz langsam. 

Ich löse mich vom Türrahmen. Von oben ruft Daniel: „Was gibt´s heute zu essen, Mama?“ Das geht weiter. Gerettet?

It doesn´t matter
How far you´ve come
You´ve always to go further
To go

20110108

BLICKLOS (And I wish him well)

Berlin, 9. Oktober 2009, 18.05 Uhr (Central European Time CET)

I know the land
And the coloured sand
Everythings fresh at the source in that land

Das also war sie gewesen, seine letzte Begegnung mit Annie. Ein Augen-Blick, der nicht stattfand, denn sie war ihm ausgewichen. Hatte über seine Schulter, gegen seine Brust, auf ihre Schuhe gestarrt. All ihre Versuche, ihn zu sprechen, hatte er vorher abgewehrt. Sein Mobile ausgeschaltet, die Festnetzleitung aus der Wand gezogen. Mit Karims Eltern jedoch hatte er mehrmals von der Botschaft aus telefoniert. Es war viel zu regeln, um Karims Asche nach Hause zu bringen, an den Strand und ins Meer zuletzt, wie er es, behauptete die Mutter, gewünscht hätte. Tomasz konnte sich nicht vorstellen, dass Karim sich tatsächlich mit seinem Tod beschäftigt hatte. I´m the depressive drug abuser, for all I know, not you my friend. My fiend. Dennoch - so würde es sein: Die Freunde, Karims Familie, ein Lagerfeuer am Strand, Gitarrenmusik, in die Wellen laufen mit der Asche, sie auflösen im Ozean. Es fühlte sich richtig an, egal, ob Karim das selbst geplant hatte oder die Mutter in ihrer verzweifelten Sehnsucht, dem geliebten Sohn noch einmal etwas recht zu machen, es sich ausdachte. Die australische Botschaft hatte ihm geholfen, den Papierkram zu erledigen, mitfühlend und engagiert eine junge Frau, betroffen vom Tod dieses Musikers, der nur wenige Jahre älter als sie gewesen war und von der Traurigkeit des struppig-schönen dunklen Ritters Tom. 

In dem ganzen Annie-Jahr hatte es keine andere Frau gegeben, trotz der vielen Tage und Nächte, die er ohne sie gewesen war. Warum nur hatte er sich so fixiert, so verrannt? Er begriff es nicht mehr. Die alte Frau, dachte er, ich habe meinen Freund gegen einen Baum gehetzt wegen einer Frau, die beinahe, - hatte sie das nicht selbst immer wieder aufgebracht? -, meine Mutter sein könnte. Manche werden mit sechzehn schwanger. Als ich zum ersten Mal einen Jungen küsste, warst du noch nicht mal geboren. Fuck you, Annie.

Da war sie nun vor ihm und fuhr fahrig mit den Fingern durchs Haar. „Ich muss...“, fing sie an. Doch er unterbrach sie sofort: „I´m going home. Tomorrow.“ Sie schluckte, immerhin schluckte sie, aber dann drehte sie sich um zu einem jungen Mann, der hinter ihr stand, den er noch gar nicht wahrgenommen hatte. Sonderbar das, denn es war ein Riese, der seine Hand auf Annies Arm legte und sagte: „Mama...“ Damn. Der Sohn. Ein Jahr lang hatte er Annie geliebt und sie besessen, doch sie hatte einen Sohn und noch einen und einen Mann, ein komplettes anderes Leben, das er ignoriert hatte, das es nicht gegeben hatte, wenn es sie beide gegeben hatte und jetzt, hier, am Tag vor seiner Abreise wurde das leibhaftig, das andere Leben, stand gigantisch mit hängenden Armen gelassen dar und sagte: „Mama.“ Annie nickte hinauf zu dem: „Mein Sohn.“ und hinüber zu ihm „Das ist Tomasz Hosni. Einer meiner Studenten vom Goethe-Institut“. Sie gaben sich die Hand. „Woher kommen Sie?“, fragte der höflich, während Annie hastig noch mal rief: „Ich muss....“ und dem Sohn zu: „Wartest Du hier, ja?“. Weg war sie und da stand er vor den Hackeschen Höfen mit ihrem anderen Leben und wusste dem nichts zu sagen. Drei Mal, Annie, hast du mich verleugnet, wie Petrus den Herrn. You ´re not Jesus. Wann hatte sie das gesagt? Unter ihm, als er die Wahrheit gesprochen hatte: I am your lord.

I know the sound
As the sun goes down
Everythings fresh as the sun goes down

„Aus Australien. Ich habe ein Stipendium gehabt hier in Berlin für meine Musik. The Grant McLennan Fellowship. Well, you might not know...“ „Doch. Doch.“, lachte das große Kind „Die Go Betweens, meine Mutter hört sie rauf und runter. Da war sie sicher begeistert.“ Wenn du wüsstest, wovon deine Mutter begeistert war, wenn du das wüsstest, dann stündest du anders hier. „Meine Band heißt: Poor Heirs. Wir sind bei My Space.“ „Das hör ich mir mal an.“ „Ich gehe zurück nach Hause.“ „Nach Sydney?“ Tomasz nickte. „Würde ich auch gern mal hinfahren.“ Ich reise, dachte er, mit der Asche meines Freundes im Gepäck, den ich gegen einen Baum habe fahren lassen, auf dem Weg in euer verdammtes Neuglobsow am See, wo du daheim bist, Annies anderes Leben, in das ich eindringen wollte, mit ihm, der mich verraten hatte. Mit der Heiligen Annie hat er mich verraten. Aber, Annie hüte dich, denn jetzt habe ich dich erwischt. Das Kind wird dich hören auf MySpace, es wird hören, was du getan hast mit Karim, das kann keiner überhören: Comecomecomecomecomecome. Das kannst du nicht wegleugnen und lächeln. Das Kind wird begreifen. Wenn ich schon Down Under bin, wird dein Sohn dich fragen: Wer ist das, Mama, mit dem du gekommen bist? Und das wird Karim sein, der Tote.

And I wish him luck
I hope he get´s it right
As he lives my life.

Dann war sie wieder da, drückte dem Sohn eine Tüte in die Hand und ihm, Tomasz, legte sie flüchtig die Hand auf den Arm: „Ich wünsche dir einen guten Flug, Tomasz.“, beugte sich ein wenig vor, streifte mit ihrer Wange die seine und flüsterte an seinem Ohr: „I´ve got visa.“ Dann war sie weg, verschwunden in der Menge, die sich die Oranienburger hinaufdrängte. Fuck you, Annie. Dafür werde ich dich noch mehr hassen. Ich fliege zurück, weil ich dich los werden muss. Comecomecomecomecomecome. Aber es war Karim, mit dem sie das Duett gesungen hatte.

And if you see him
Tell him I´ll be him
As I live his life